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Jeden Tag, Jede Stunde

Jeden Tag, Jede Stunde

Titel: Jeden Tag, Jede Stunde
Autoren: Natasa Dragnic
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eine leichte Sommerbrise über den Himmel treibt. Es ist früh am Nachmittag, und es ist sehr ruhig um sie herum, nur ab und zu geht ein Tourist vorbei. Die Einheimischen verstecken sich alle vor der brennenden Sonne, die Fensterläden sind geschlossen, man sucht den tiefsten Schatten und versucht, sich nicht zu bewegen: Bei solcher Hitze fällt manchmal sogar das Atmen schwer.
    Alle wissen das, außer den Touristen, die den ganzen Tag unermüdlich und ohne Hut herumlaufen und dann schließlich in der Notaufnahme enden. Luka weiß das ganz genau. Er beobachtet sie jeden Morgen am Strand, wo er sich neben dem gelben Haus mit dem Sonnenschirmverleih sein Taschengeld verdient. Er ist neun Jahre alt. Er sieht gut aus. Das sagt auch Dora. Sein Haar lässt er wachsen, und es schimmert in der Sonne, als wäre es voller Glitzerstaub. Seine sonst sehr blasse Haut hat eine satte schokoladenbraune Tönung bekommen. Zu Hause beobachtet Luka oft seinen Körper im Spiegel. Er gefällt ihm nicht so ganz, er ist zu dünn. Aber das wird sich bald ändern, denn im Mai hat Luka mit dem Wasserballtraining angefangen. Jeden Morgen steht er um sieben Uhr auf, isst schnell eine Scheibe Brot und läuft zum Training. »Galeb« heißt der Klub. Schon sein Vater hat da Wasserball gespielt. Vor vielen Jahren natürlich. Bevor Luka geboren wurde. Da hat Mama ihn gesehen und sich in ihn verliebt. Alle Mädchen verlieben sich in Wasserballspieler, ist doch klar! Sie sind groß und stark und einfach gut. Besser als Fußballspieler. Er freut sich darüber. Über das Wasser und die Freunde und die Muskeln. Wenn es nur nicht im September schon zu Ende wäre. Blöder September! Und Dora. Daran darf er nicht denken. An September und Dora in einem Atemzug. Darf er nicht. Auf keinen Fall.
    Dora kommt jeden Morgen zur gleichen Zeit wie er zum Strand – es sei denn, sie hat ihm beim Training zugeschaut, was sehr oft der Fall ist -, breitet ihr Badetuch neben seinem Klappstuhl aus, beobachtet ihn beim Malen, geht schwimmen, wenn er Pause macht, und bleibt bis zum Mittagessen. Dann gehen sie gemeinsam nach Hause, kaufen manchmal, wenn einer von ihnen Geld hat, ein Eis im Milchrestaurant, dem einzigen Ort in Makarska, wo es Eis gibt – Dora nimmt natürlich ein Schokoladeneis, für sie gibt es nichts außer Schokolade auf der Welt, und er Zitrone, er mag diesen sauerbitteren Geschmack, der so herrlich erfrischt und noch lange auf der Zunge haften bleibt, manchmal sogar noch bis nach dem Mittagessen -, und wo man immer Schlange stehen muss. Sie trennen sich erst an der letzten kleinen Kreuzung, wo Dora dann den winzigen steilen Hügel hinaufläuft und Luka rechts und dann zwei Mal links abbiegt. Da sie nur dann Hunger haben, wenn sie zusammen sind, stochern sie zu Hause missmutig auf ihren Tellern herum, schieben das Essen hin und her, verschlingen ganze Bissen, ohne sie richtig gekaut zu haben. Die Mütter ärgern sich, wundern sich, machen sich Sorgen, spaßen darüber, schreien sie an, drohen, legen ihnen die Hand auf die Stirn, beobachten sie aufmerksam, kochen ihre Lieblingsspeisen, verzweifeln, fragen nach, zucken mit den Achseln. Dann wird der Tisch abgeräumt, und jeder zieht sich in sein Zimmer zurück, um den unerträglich heißen Nachmittag zu überleben, um sich auszuruhen. Was die Kinder auch tun sollten.
    Aber Dora und Luka haben sich hinausgeschlichen, jeden Tag, den ganzen Sommer lang, während die Eltern in ihren Zimmern Siesta hielten. Denn Ausruhen ist für sie die größte Verschwendung der kostbaren Zeit, die sie miteinander verbringen können. Wie jede andere Zeit, die sie nicht zusammen erleben.
    »Siehst du sie oder siehst du sie nicht?« Doras Stimme ist schon ein wenig ungeduldig. »Man darf nicht sagen, dass man etwas sieht, wenn man es nicht sieht!« Sie spielt mit ihren Haaren. Wie immer.
    Luka bleibt still. Er muss an den September denken, also sagt er lieber nichts. Er dreht sich zu ihr um und sieht sie dabei an, wie konzentriert sie die Wolken beobachtet. Seit Monaten schon. Seit Jahren. Wenn er erblinden würde, wäre es ihm egal, denn ihr Gesicht kennt er in-und auswendig.
    »Das zählt nicht. Nur die Wolken zählen, die man tatsächlich gesehen hat.« Sie atmet aufgeregt, und ihre Augenlider fangen an zu flattern. »Also, was nun? Wenn du sie nicht siehst, habe ich gewonnen! Weil du auch die davor nicht gesehen hast, obwohl sie so klar war. Es konnte gar nichts anderes sein als eine fliegende Kutsche mit einer Taube auf dem
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