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Kristall der Macht

Kristall der Macht

Titel: Kristall der Macht
Autoren: Monika Felten
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Prolog
    Noelani sah den Luantar kommen.
    Vor dem Hintergrund der untergehenden Sonne rauschte er über das Meer heran. Schnell, zornig, todbringend. Seine mächtigen Schwingen peitschten das Wasser, die Augen glühten wie Kohlenstücke in dem wuchtigen Schädel. Noelani spürte, dass etwas Furchtbares geschehen würde, aber obwohl sie sich ängstigte wie noch nie in ihrem Leben, konnte sie sich nicht von der Stelle rühren.
    Sie wollte schreien und die Menschen unten im Dorf warnen, doch es kam kein Laut über ihre Lippen. Von ihrem erhöhten Standpunkt auf der Klippe aus musste sie hilflos mit ansehen, wie der Luantar das Maul aufriss und dem Dorf eine Wolke aus tödlichem gelbem Atem entgegenschickte. Wie eine düstere Woge rollte sie heran, verschlang den Horizont, das Meer und den Strand mit seinem Brodeln und löschte schließlich sogar das Sonnenlicht aus.
    Aus dem Dorf waren Schreie zu hören, verzweifelte Schreie – Todesschreie. Der Dunst nahm Noelani die Sicht, aber sie musste nichts sehen, sie wusste, was dort unten vor sich ging, wusste, dass ihr Volk in diesem Augenblick ausgelöscht wurde.
    Ihr Herz hämmerte wie wild.
    Kaori, ich muss Kaori retten! Der Gedanke löste die Starre, die das Grauen in ihre Glieder getragen hatte. Aber sosehr sie sich auch mühte, sie konnte den Platz auf der Klippe nicht verlassen. Als sie an sich herunterblickte, erkannte sie, dass ihren Füßen Wurzeln entsprossen, die sich tief in den Boden gegraben hatten. Panik stieg in ihr auf. Mit bloßen Händen versuchte sie, sich aus dem Erdreich zu befreien, grub, wühlte und zerrte unter Tränen an den Wurzeln, bis ihre Finger blutig waren – doch vergeblich.
    Kaori! Noelani schluchzte auf, als etwas ihre Wange streifte … ein Windzug, der sie innerlich zu Eis erstarren ließ. Sie spürte die Nähe der dämonischen Bestie, noch ehe sie den Kopf hob und den Luantar erblickte, der mit kraftvollem Flügelschlag nur wenige Schritte vor der Klippe in der Luft zu stehen schien, den blutüberströmten Leichnam Kaoris wie eine Trophäe im halb geöffneten Maul …
    »Kaori!«
    Mit einem Schrei fuhr Noelani aus dem Schlaf auf. Sie keuchte. Schweiß rann ihr über die Stirn, und obwohl es in der Hütte drückend heiß war, zitterte sie am ganzen Körper. Die Bilder des Albtraums und die damit verbundene Angst hallten noch in ihr nach und machten es ihr schwer, in die Wirklichkeit zurückzufinden.
    »Ich bin hier.« Kaori, die neben ihr geschlafen hatte, setzte sich auf, schloss sie in die Arme und strich ihr über das zerzauste schwarze Haar. »Ich bin hier«, raunte sie Noelani zu. »Schscht, schscht … Es ist alles gut.«
    Noelani zögerte, unsicher noch, ob sie wachte oder träumte. Dann lehnte sie den Kopf an Kaoris Schulter, starrte auf den schmalen Lichtstreifen, den der Mond durch das kleine Fenster in den Raum warf, und wartete darauf, dass sich der Aufruhr in ihrem Innern beruhigte. Kaori war bei ihr. Alles war gut.
    »Hast du wieder von dem Dämon geträumt?«, fragte Kaori sanft, ohne die Umarmung zu lösen.
    Noelani nickte, sprechen konnte sie noch nicht.
    »Der Luantar kann uns nicht mehr gefährlich werden, das weißt du doch.«
    »Ja.« Noelanis Lippen bebten, als sie mühsam das eine Wort formte. Kaori sagte die Wahrheit. Der schreckliche Dämon, der die Insel einst heimgesucht und die Bewohner von Nintau fast alle getötet hatte, war besiegt, sein Körper zu Stein erstarrt. Solange die Maor-Say über ihn wachte, würde er niemals wieder Unheil über die Insel bringen können. Keiner fürchtete ihn mehr, außer vielleicht die Kinder, wenn sie zum ersten Mal den Berg zum Tempel hinaufstiegen, um am Fuße des Dämonenfelsens die Geschichte des großen Unheils zu hören, das die versteinerte Bestie über Nintau und seine Bewohner gebracht hatte.
    Obwohl ihr Weg zum Dämonenfels schon mehr als fünf Jahre zurücklag, erinnerte sich Noelani daran, als sei es gestern gewesen. Auch sie hatte sich gefürchtet. Auch sie hatte gelitten. Jedes Wort der Maor-Say, die den Kindern von der längst vergangenen Katastrophe erzählt hatte, hatte in ihrem Kopf Bilder entstehen lassen, ganz so als ob sie selbst dabei gewesen wäre. Bilder von Tod, Leid und Zerstörung und so entsetzlich, dass ihre junge Seele daran zu zerbrechen drohte. Sie hatte stark sein wollen an diesem Tag, aber sie hatte es nicht vermocht. Als sie es nicht mehr ausgehalten hatte, hatte sie zu weinen begonnen.
    Es war ein Glück, dass Kaori damals bei ihr gewesen
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