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Jeden Tag, Jede Stunde

Jeden Tag, Jede Stunde

Titel: Jeden Tag, Jede Stunde
Autoren: Natasa Dragnic
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seltener, und er muss unglaublich viel malen, im ganzen Haus hängen seine Bilder. Er geht jetzt in den Kindergarten, obwohl seine Mutter nicht arbeitet, und die anderen Kinder sind manchmal sehr gemein zu ihm, sodass er auf die Toilette geht und dort weint und malt, wo niemand ihn sieht, auch nicht Tante Vera, die sich eigentlich um alle Kinder kümmert, ihn aber besonders lieb hat. Sie fährt ihm oft mit der Hand über die Haare, lächelt ihn warm an oder zwinkert ihm zu und liest am häufigsten seine Lieblingsgeschichte vor, auch wenn die anderen Kinder schreien, die Geschichte sei langweilig und sie würden sie schon auswendig kennen. Eigentlich möchte Luka den ganzen Tag im Kindergarten bleiben und gar nicht mehr nach Hause gehen, wo diese blöde Schwester weint und Mama müde ist und Papa nicht da und ihm immer mehr zum Heulen ist, auch wenn er es unterdrückt und keiner es sieht. Und trotzdem ist er unglücklich und will, dass alles so ist wie früher, als sein Vater noch mit ihm angeln gegangen ist und sie mit dem Boot weit hinausgefahren sind und er die Fische malen und fangen konnte und sein Vater ihm lustige und manchmal schwierige Fragen gestellt hat, wie zum Beispiel, wenn eine weiße Kuh weiße Milch gibt, was für Milch gibt dann eine schwarze Kuh?, was natürlich keine einfache Frage ist, doch er hat alle Antworten gewusst. Und manchmal sind sie bis nach Sonnenuntergang geblieben, aber immer, immer haben sie viel Spaß miteinander gehabt.
     
    Dora versteht es. Ihre Mutter spricht deutlich und langsam und ist traurig, und Dora versteht es. Aber Dora ist nicht traurig darüber, dass sie jetzt schon, mit zwei Jahren, drei Mal in der Woche in den Kindergarten gehen soll, denn Mama muss wieder arbeiten, und Dora hat keine Großeltern in der Nähe, die auf sie aufpassen könnten. Ihre Großeltern wohnen weit, weit weg. Dora hat sie schon oft besucht. In einer großen Stadt. »Der Hauptstadt, schlicht und ergreifend«, sagt Mama; dann ärgert sich Papa und verbessert sie. Belgrad sei die Hauptstadt, Zagreb sei nur eine große Stadt. In Belgrad lebt auch der Präsident. Mama murmelt etwas vor sich hin. Dora sieht, dass sie nicht glücklich ist. Es ist nicht wegen des Präsidenten, den mag jeder, er ist immer von Kindern und Blumen umgeben, aber mit der Stadt, in der er lebt, ist Mama nicht glücklich. Deswegen sagt Dora, wenn sie mit Mama alleine ist: Wir fahren zu Oma und Opa in die Hauptstadt. Und Mama lächelt und sieht sich dabei schnell um. Zagreb. Sie mussten lange mit dem Auto fahren, um dorthin zu kommen. So lange, dass Dora mehrmals eingeschlafen ist. Dora erinnert sich an alles. Ihr Kopf ist voller Bilder, die riechen und sprechen und manchmal auch schmecken. Und sie kann sie alle in Worte fassen. »Das Mädchen hat ein Gedächtnis!«, ruft die Mutter und kann es kaum glauben. »Wie ein Elefant«, sagt der Vater und wundert sich. Ein merkwürdiges Kind, denken sich einige, sagen aber nichts. Dora macht sich keine Gedanken darüber. Sie steht manchmal lange vor dem Spiegel und beobachtet sich darin, ihr Gesicht, das sich so schnell verändert, als wären es hundert verschiedene, das gefällt ihr gut. So ist sie. Alles das ist sie. Und sie freut sich auf die Kinder im Kindergarten, die sie noch nie gesehen hat. Auf das Spielzeug auch. Sie hat keine Angst. »Für Dora ist das ganze Leben ein Abenteuer«, sagt ihre Mutter immer und hebt die Augenbrauen, was sehr lustig aussieht, sodass Dora lachen muss. Und Papa liest die Zeitung.
     
    Luka sieht das neue Mädchen, das gerade hereinkommt. Sein schwarzes Haar, lang und wellig. Und glänzend. Wie der Schuppenpanzer eines Fisches. Es ist klein und dünn und schnell und jünger als alle anderen Kinder im Kindergarten, und er kann die Augen nicht von ihm abwenden. Die Mutter des Mädchens trägt seine Tasche, die weiß und blau gestreift ist. Mit einem großen gelben Fisch in der Mitte. Sie gefällt Luka sehr, diese Tasche. Auch wenn er den Fisch nicht erkennen kann. Er selbst hat einen schwarzen Rucksack, den er sich nicht selbst aussuchen konnte und den er schon einmal mit der Schere angegriffen hat, um einen neuen zu bekommen. Aber es hat nicht geklappt, es ist nur noch schlimmer geworden. Jetzt ist der Rucksack hässlich und kaputt. Deswegen versteckt Luka ihn in einer Plastiktüte und trägt die Tüte mit sich herum. Und niemand merkt es. Wenn er doch nur so eine tolle Tasche hätte wie das neue Mädchen! Er sieht sich schon mit dieser Supertasche
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