Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Jeden Tag, Jede Stunde

Jeden Tag, Jede Stunde

Titel: Jeden Tag, Jede Stunde
Autoren: Natasa Dragnic
Vom Netzwerk:
herumlaufen, sein Malzeug und Malheft darin, von allen bewundert und beneidet. Stolz überquert er den Kačić-Platz, langsam schreitet er auf die Marineta zu, wo alle Leute sich versammeln, um ihn und seine neue Supertasche zu sehen. Keiner kann die Augen von ihm abwenden! Vielleicht würde Mama dann wieder lächeln und Papa einen Kuss geben, so wie früher, sie würde Papas Namen leise aussprechen, mehrmals würde sie ihn sagen – Zoran, Zoran, Zoran, Luka kann es schon hören -, und Papa würde zufrieden schmunzeln und mit Luka fischen gehen. Ja, sicher würde er das machen und ihm ganz schwierige Fragen stellen wie zum Beispiel, wenn Mama und Papa weiß sind, aber das Kind in Afrika geboren wird, welche Hautfarbe wird es dann haben?, was eine schwierige Frage ist, aber das ist egal, er kennt alle Antworten. Wenn er nur so eine Tasche hätte! Wie das neue Mädchen. Er kann die Augen nicht abwenden von ihr!
     
    Dora betritt erwartungsvoll den Kindergarten und sieht sich um. Ein großer Junge steht neben dem Bücherregal und beobachtet sie. Dora stört das nicht. Sie zieht ihre Jacke aus. Sie will nicht, dass Mama ihr hilft, solange der große Junge sie beobachtet. Vielleicht ist das so im Kindergarten. Vielleicht muss einer so den ganzen Tag stehen und andere Kinder beobachten, vielleicht ist das ein ganz tolles Spiel. Dora kann es kaum erwarten, mitspielen zu dürfen. Die Schuhe will sie sich auch alleine ausziehen. »Was ist denn, Dorice«, wundert sich Mama. Mama versteht es nicht. Sie weiß nicht, dass das ein ganz tolles, neues Spiel ist und dass der Junge sie beobachtet und dass sie tapfer sein muss, wenn sie mitspielen will, und sie will unbedingt auch so unbeweglich am Regal mit den Bilderbüchern stehen dürfen, oh ja, das will sie auf jeden Fall. Also schüttelt Dora den Kopf und sagt nichts. Denn ihr Kopf fühlt sich plötzlich so schwammig an und voll und leer und aufgeblasen wie ein Luftballon und heiß und leicht und zittrig und durchsichtig. Sie schließt die Augen. Ihr linker Fuß ist schuhlos. So bleibt sie sitzen. »Was hast du denn, zlato moje«, fragt die Mutter noch einmal. Dora sieht sie an. Gleich wird Mama anfangen zu weinen. Moja Dorice!
     
    Luka bewegt sich nicht. Er lehnt sich an das große Bücherregal und hält die Luft an. Er hat Angst, die Tasche könnte verschwinden, wenn er die Muskeln entspannt und einatmet. Er fixiert die Tasche, bis es wehtut und seine Augen anfangen zu tränen. Er zählt: Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben … Dann löst sich seine Welt in nichts auf, und er gleitet zu Boden. Alles ist still um ihn. Er verschwindet nach und nach. Wie die Bilder eines Buches, dessen Seiten er ganz langsam loslässt.
     
    Dora ist die Erste, die bei dem ohnmächtigen Jungen ankommt. Sie geht in die Hocke, wird winziger als winzig. Ihre Augen weiten sich, bis ihr Gesicht, das blasser wird als blass, nur noch aus Augen zu bestehen scheint. Sie beugt ihren Kopf über den des Jungen, und bevor die Frau, die sich auf seiner anderen Seite niederkniet und seine Beine hochhebt, sie wegschicken oder ihr zuvorkommen kann, küsst Dora ihn auf den hellroten Mund. »Dora!«, ruft ihre Mutter entsetzt. Keine Zeit für Kosenamen!
     
    Luka hört eine leise Stimme an seinem Gesicht: »Du bist mein Dornröschen, nur mein, wach auf, mein Prinz, du bist mein Prinz, nur mein …« Dann kommen ihm auch andere Stimmen und Worte zu Ohren, und verwirrt und schwach macht er die Augen auf und …
    … sie sieht seine Augen, die sich langsam öffnen, seinen verstörten Blick, seine Lippen, die sich lautlos bewegen …
     
    … aber er kann nichts sagen, also lächelt er schwach und …
     
    … sie lächelt auch und …
     
    … er hebt unsicher seinen Arm, und seine Hand streckt sich ihrem Gesicht entgegen, und er berührt ihr langes, schwarzes Haar und fragt sich, wo wohl die Tasche geblieben ist und ob er sie jetzt vielleicht überreden könnte, sie ihm zu schenken, um ihn aufzumuntern, und …
     
    … sie flüstert noch einmal ganz leise, so leise, dass nur ihr Mund sich bewegt: »Mein Prinz, nur mein.«

2
    »Siehst du die dort, die ganz kleine, wie eine Eiskugel?«
    Dora zeigt mit dem ausgestreckten Arm, an dessen Ende ein runder Lutscher zwischen den klebrigen Fingern steckt, in die Höhe des Himmels, und obwohl ihre Köpfe ganz nah beieinander liegen, kann Luka sie nicht sehen, diese wolkige Eiskugel.
    Sie haben sich auf dem Kabinendach ausgestreckt und beobachten jetzt die Wolken, die
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher