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Jeden Tag, Jede Stunde

Jeden Tag, Jede Stunde

Titel: Jeden Tag, Jede Stunde
Autoren: Natasa Dragnic
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will Meeresforscher werden, und erst neulich haben wir sein Talent zum Malen entdeckt.« Mit jedem Wort, das sie über ihren Sohn ausspricht, strahlt ihr Gesicht ein wenig mehr. Als würde sie mit ihm zusammenwachsen.
    »Hört sich wunderbar an.«
    »Er ist wunderbar!«
    Und sie müssen lachen über so viel Elternstolz.
    »Was macht sein Vater?«, fragt Luka wie beiläufig.
    »Lebt.« Kurz und bündig. Mehr ist dazu nicht zu sagen, denkt Dora.
    »Interessant. Gut für ihn.«
    »Schon möglich.«
    »Wann ist er geboren?«
    »Er ist siebzehn Jahre alt. Kannst du nicht rechnen?«
    »Ich meine, an welchem Tag? Wann ist sein Geburtstag?«
    »Wieso?« Vorsichtig, sogar ein wenig angriffslustig.
    »Einfach so.«
    Dora fühlt sich in die Enge getrieben.
    »Am fünften November«, flüstert sie.
    Luka schweigt. Vielleicht rechnet er still. Dann atmet er tief ein. »Ich verstehe.« Und er strahlt übers ganze Gesicht und grinst zufrieden.
    Dora erwidert nichts. Es gibt nichts zu erwidern.
    »Ich will ihn kennenlernen.«
    So, da wären sie jetzt. Das hat sie immer schon befürchtet.
    Warum ist sie dann aber auf einmal so glücklich – wie erlöst?!
    Dora und Luka gehen spazieren. Am Strand entlang. Zum Leuchtturm. Dann zum Felsen. Aber sie bleiben oben, setzen sich auf einen Stein. Luka legt einen Arm um Dora. Es ist kalt und windig, und zahllose Wolken ziehen über ihnen vorbei. Das Meer ist wild geworden. Es schnaubt und zischt und spritzt, wirft sich stürmisch hin und her, wie ein gefangenes Untier. Und während sie dieses Spiel, diesen Kampf fasziniert beobachten, erzählt Luka die Geschichte von seiner zweiten Tochter Maja, wie sie gezeugt wurde und auf die Welt gekommen ist, nur einen Tag nach seinem Sohn, und wie schwer krank sie war, und da muss Dora weinen. Und er erzählt von seiner älteren Tochter Katja, die gar nicht seine Tochter ist, sondern das Resultat eines Ausrutschers, wie Klara das genannt hat, aus der Zeit, als Luka in Paris und sie verzweifelt war, das hat sie alles Ana erzählt, die sie gleich zur Rede gestellt hat, natürlich, so ist Ana, denn Luka hat mit ihr nicht geredet, nicht vorher und nicht nachher, überhaupt nie mehr. Er kennt aber jenen Mann, er hat früher Wasserball mit ihm gespielt, und jetzt hat der eine Niere für seine Tochter gespendet und Katja so wieder gesund gemacht, sodass sie sich wieder um ihre zwei kleinen Töchter kümmern kann, sie ist eine ganz tolle Mutter, ein sehr gutes Mädchen – junge Frau, klar -, sie hat ihren Traum verwirklicht, Ehefrau und Mama zu sein, wunderbar, und wieder muss Dora weinen. Und als er von seiner kurzen Soldatenkarriere erzählt, von seiner Verletzung und wie Dora ihn gerettet hat, weint sie gleich noch einmal, denn sie kann sich daran erinnern, an seine Verletzung und die Angst, die ihr den Atem nahm. Und zum Schluss erzählt er ihr von dem Tag im Keller, von den Bildern, die seitdem entstanden sind, von der Entscheidung, Dora zu finden, sein Leben mit seinem Leben zu verbringen, und da muss Dora noch mehr weinen, denn darauf hat sie ihr Leben lang gewartet und jetzt ist es zu spät.
    »Weißt du, was diese ganze Geschichte ist?«
    »Ein surrealistisches Bild des Grauens? Dalí in Höchstform?«
    »Eine Historie der unzähligen Schwangerschaften, die die Welt veränderten.«
    Schweigen. Als wäre es Gold. Dann schallendes Lachen voller Tränen.
    »Und was jetzt?«
    »Lass uns hier verschwinden.«
     
    Dora wischt sich die Tränen ab und schüttelt den Kopf.
    »Das geht nicht. Ich bin verheiratet.«
    »Aber du liebst mich!«
    »Ja, ich liebe dich.«
    »Warum hast du ihn dann geheiratet?!« Luka merkt gar nicht, wie unangebracht seine Empörung ist.
    »Er war da. Er liebt Nikola. Nikola mag ihn. Er ist gut zu mir, und Nikola wollte nicht, dass ich alleine bleibe, wenn er die Weltmeere bereist.« Pause. »Und manchmal habe ich auch jemanden gebraucht.« Das flüstert Dora, als würde sie sich schämen.
    »Wie lange seid ihr schon verheiratet?« Aus Empörung wird allmählich Verzweiflung.
    »Drei Jahre.«
    »Was macht er?«
    »Er ist Regisseur. Er hat bei sechs meiner Stücke Regie geführt.«
    »Doch nicht etwa dieser Frédéric!« Luka wird ungehalten. Er steht auf und dreht ihr den Rücken zu, widmet sich dem brüllenden Meer: Verrückter Südwind, der denkt, er wäre ein Orkan!
    »Natürlich nicht! Er heißt Roger.«
    »Roger! Was ist das denn für ein Name!« Luka macht der brüllenden, salzigen Wassermenge unter ihm Konkurrenz. »Ich hasse
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