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Jeden Tag, Jede Stunde

Jeden Tag, Jede Stunde

Titel: Jeden Tag, Jede Stunde
Autoren: Natasa Dragnic
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sich haben. Eine Erinnerung. Ein Antrieb. Die Kraftquelle für die nächsten Stunden und Tage. Für den sich rasend schnell nähernden Augenblick. Für die zweite Kiste.
    Die zweite Kiste. Voller Fotos. Muscheln. Ein paar Steine. Mozartkugelpapier. Kinderkram. Zeichnungen. Drei Bücher spanische Gedichte. Bilder. Rechnungen. Die zweite Kiste voller Erinnerungen, die seit sechzehn, manche auch seit zweiundzwanzig Jahren darauf warteten, wieder angefasst zu werden. Erlebt. Geliebt. In dem Augenblick, als Luka Doras Foto gesehen hat, musste er aufstehen und das Fenster aufmachen. Ihre Stimme in seinem Kopf. Er hat gelacht und geweint und angefangen zu zählen: Eins, zwei, drei, vier, fünf… Er hat eine leise Stimme an seinem Gesicht gehört, »Du bist mein Dornröschen, nur mein, wach auf, wir werden jetzt heiraten, du bist mein Prinz, nur mein …«
    Ja, so wird es sein, hat er gedacht und das Kellerfenster wieder zugemacht.
    Luka setzt sich auf. Es wird dunkel auf dem Felsen. Er nimmt den Zeichenblock und die Stifte. Er sieht sich um. Der Pinienbaum. Warum nicht? Die Finger spielen mit dem Stift, als wollten sie einen Trick vorführen. Der Stift fühlt sich gut an, liegt bequem in der Hand, als würde er sich darin wohlfühlen. Luka macht den ersten Strich, dann noch einen. Schnell und entschieden. Als hätte es die Kellerjahre nie gegeben. Mit jedem Zug wächst Luka. Und seine Entschlossenheit mit ihm. Und die Zuversicht, dass alles noch passieren kann, dass alles noch möglich ist.
    Dass jemand anderer jetzt Katja retten muss. Wird.
    Dass er jetzt wieder hemmungslos malen kann.
    Dass er Dora finden wird.
    Dass es für nichts zu spät ist.
    Und keinen Gedanken und keine Emotion will er an Klara verschwenden. Nie mehr. Er hat keine Zeit für Fragen und Erklärungen. Er wurde soeben begnadigt. Das soll ihm genügen.
    Bald ist das Bild fertig.
    Dann ist Dora dran. Und sein Leben.
     
    Dora kann nicht einschlafen. Gedanken, die sie nicht versteht, erobern ihren Kopf und verbreiten sich, als Gefühle getarnt, im ganzen Körper. Sie liegt ruhig im Bett und schläft nicht. Ihre Augen sind offen. Was sie sieht, versteht sie nicht ganz. Ihre Gedanken sprechen zu ihr, sie erfasst aber den Sinn des Gesagten nicht. Es kommt ihr alles so konfus vor. Aber sie drängen, lassen ihr keine Ruhe, zwingen sie schließlich aufzustehen. Sie geht in ihr Arbeitszimmer, zum alten, massiven Schrank. Sie bleibt davor stehen, zitternd in ihrem dünnen Nachthemd. Sie geht in die Hocke und zieht die unterste Schublade heraus. Sie klemmt. Sie ist seit fast zwei Jahrzehnten nicht mehr geöffnet worden. Sie braucht viel Kraft und Geschicklichkeit, zieht und rüttelt und zieht wieder und landet rücklings auf dem Parkett. Die Schublade aber wurde bezwungen und steht endlich offen. In ihr befinden sich nur zwei Schachteln. Dora betrachtet sie lange, sie kann sich nicht entscheiden, sie anzufassen, geschweige denn, sie aufzumachen. Sie könnte eine Inventarliste zusammenstellen, ohne auch nur einen einzigen Blick hineingeworfen zu haben. Da drinnen ist ihr Leben. Ihr Leben, wie es hätte sein müssen. Alles da drinnen. Vorbei und doch immer noch da. Für immer und ewig. Ihr mit Gewalt entrissen. Weggenommen. Gestohlen. Aber nie vergessen.
    Dora sitzt auf dem Parkettboden in ihrem Arbeitszimmer, zitternd in dieser kalten Novembernacht, und hat das Gefühl, dass die Welt sich vor ihren Augen verändert. Wie in einem Naturfilm im Zeitraffer. Wo sich keiner darüber wundert, dass innerhalb einiger Sekunden aus einem Samen eine wunderbare Rose entsteht. Alles bleibt gleich auf den ersten Blick, aber man spürt die Veränderung ganz genau, im ganzen Körper. Das Herz schlägt schneller und ungleichmäßiger. Und zwar nicht wegen dieser Finanzkrise. Es ist eher eine Veränderung wie beim Klimawandel. Wichtig. Existenziell wichtig. Etwas, was das ganze Universum beeinflussen wird.
    Dora weint nicht. Sie macht Atemübungen. Ein, aus. Mindestens drei Mal muss man es machen, damit es beruhigend wirkt. Ein, aus. Ein, aus.
    »Dora.«
    Ein, aus.
    »Dora!«
    »Ich komme.«
    Und Dora steht auf, macht mit dem Fuß die Schublade zu, ohne die zwei Schachteln angerührt zu haben, verlässt ihr Zimmer und schließt die Tür hinter sich.
    Sie weiß, was sie zu tun hat. Es ist entschieden.

39
    Luka sieht die fremde Frau, die soeben das Foyer betritt. Er kennt sie nicht. Noch nie hat er sie hier gesehen. Ihre schwarzen Haare, kurz und wellig. Und glänzend. Wie die
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