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Jeden Tag, Jede Stunde

Jeden Tag, Jede Stunde

Titel: Jeden Tag, Jede Stunde
Autoren: Natasa Dragnic
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dunkelblauen Glitzerschuppen der Makrele, die immer in Bewegung bleiben muss, um nicht zu versinken. Sie betritt den Raum, als würde er ihr gehören. Bühne ist das Stichwort. Sie ist groß und schlank und voller Bewegung, auch wenn sie sich nicht bewegt, und er kann seine Augen nicht von ihr abwenden.
     
    Dora betritt erwartungsvoll das Hotelfoyer. Das dritte. Denn das Hotel Park ist geschlossen. Viele andere auch. Dieses sollte es aber sein. Hotel Dalmacija. Ein großer, korpulenter Mann sitzt an der Bar, neben ihm ein Gehstock. Er unterhält sich vertraut mit dem unterbeschäftigten Barkeeper, während der sie beobachtet. Dora stört das nicht. Das kennt sie. Sie zieht ihren dicken Wintermantel aus. Ihr Blick trifft den des anderen Mannes. Er spielt mit seinem Stock, und Dora denkt, dass er eigentlich zu jung ist für den Gehstock. Oder für die grauen Haare. Plötzlich fühlt sich ihr Kopf schwammig an und voll und leer und aufgeblasen wie ein Luftballon und verschwommen und heiß und leicht und zittrig und durchsichtig. Sie schließt die Augen. So bleibt sie stehen. Bilder kommen in Wellen. Überrollen sie fast. Und keiner ist da, um sie zu fragen, was los ist.
     
    Luka bewegt sich nicht. Er stützt sich auf die Theke und hält die Luft an. Er hat Angst, die fremde Frau könnte verschwinden, wenn er die Muskeln entspannt und einatmet. Er fixiert sie, bis es wehtut und seine Augen anfangen zu tränen. Dann löst sich seine Erinnerung in nichts auf und er gleitet zu Boden. Er hat nicht einmal Zeit gehabt, zu zählen. Er verschwindet langsam. Wie die Zahlen des Buchungsberichts, dessen Seiten er ganz langsam loslässt.
     
    Dora ist die Erste, die bei dem ohnmächtigen Mann anlangt. Sie hat das schon einmal gesehen. Zwei Mal eigentlich. Erlebt hat sie es. Und sie weiß, was sie tun muss. Also geht sie in die Hocke, wird winziger als winzig. Ihre Augen weiten sich, bis ihr Gesicht, das blasser wird als blass, nur noch aus Augen zu bestehen scheint. Sie beugt ihren Kopf über den des Mannes, und, bevor sich der Barkeeper oder die Empfangsdame auf der anderen Seite hinknien und seine Beine hochheben können, küsst Dora ihn auf den hellroten Mund. Und keiner ist da, um entsetzt ihren Namen zu rufen.
     
    Luka hört eine leise Stimme an seinem Gesicht: »Du bist mein Dornröschen, nur mein, wach auf, du bist mein Prinz, mein grauhaariger Prinz, nur mein …« Dann kommen ihm auch andere Stimmen und Worte zu Ohren und verwirrt und schwach macht er die Augen auf und …
     
    … sie sieht seine Augen, die sich langsam öffnen, seinen verstörten Blick, seine Lippen, die sich lautlos bewegen … … aber er kann nichts sagen, also lächelt er schwach, und …
     
    … sie lächelt auch, und …
     
    … er hebt unsicher seinen Arm, und seine Hand streckt sich zu ihrem Gesicht, und er berührt ihr kurzes, schwarzes Haar, in dem er jetzt auch ein paar graue Strähnen entdeckt, und …
     
    … sie flüstert noch einmal ganz leise, so leise, dass nur ihr Mund sich bewegt und nur er es hören kann: »Du bist mein Prinz.«
     
    »Du bist gekommen.«
    »Ja.«
    »Ich habe dich gerufen.«
    »Ich weiß.«
    »Du hast mich gehört.«
    »Ja.«
    »Ich liebe dich.«
    »Und ich bin verheiratet.«

41
    Also beobachten sie vom Wintergarten aus für einen kurzen Moment die Wolken, was so etwas wie einen Schlusspunkt unter die Erinnerungen setzt. Eine Brücke in die Gegenwart schlägt.
    »Ein Segelschiff im Sturm, da links.«
    »Ja, die Segel schlagen im Wind.«
    »Genau.« Dora sieht Luka verwundert an. »Das ist das erste Mal, dass wir uns einig sind! Kann das sein?«
    »Klar, du bist endlich erwachsen geworden.«
    Sie sitzen in gemütlichen, nebeneinanderstehenden Korbsesseln. Luka hält Doras Hand. Und bis zu diesem Augenblick ist alles andere unwichtig. Noch immer ist die Glückseligkeit über ihre Anwesenheit überwältigend genug, um alles andere ausblenden zu können.
    »Ich habe nie mit jemand anderem dieses Spiel gespielt.« Verträumt klingt seine Stimme, sogar ein wenig stolz.
    »Ich schon. Mit meinem Sohn.« Dora meidet seinen Blick, aber er lässt ihr keine Chance.
    »Erzähl mir von ihm.«
    »Warum? Was wüsstest du gern?«
    »Alles.«
    Dora sieht ihn endlich an, und Luka weiß, was er wissen will. Er lächelt sie an und drückt ihre Hand, als wollte er sagen, »Komm, erzähl mir alles, ich habe ein Recht darauf, und du weißt es«. Dora verzieht den Mund wie eine Geschlagene.
    »Er heißt Nikola, ist siebzehn Jahre alt,
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