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Jeden Tag, Jede Stunde

Jeden Tag, Jede Stunde

Titel: Jeden Tag, Jede Stunde
Autoren: Natasa Dragnic
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schließt er sogar die Augen, lässt den Kopf nach hinten fallen und fährt sich mit den Händen durch das schüttere Haar. Dann stöhnt er auf wie ein Marathonläufer nach dem Erreichen der Ziellinie, öffnet die Augen und sieht Dora an. Nachdenklich, sehr nachdenklich. Und ein wenig misstrauisch.
    »Was ist das?«, fragt er dann und droht ihr mit dem Finger. Aber bevor Dora etwas sagen kann, verschwindet er in einem Raum hinter seinem Büro und bleibt lange weg. Dora setzt sich auf seinen Arbeitshocker und fängt an, sich zu drehen. Werden wir denn nie erwachsen, fragt sie sich vergnügt. Dann hört sie Schreie aus dem Raum, in den Christian vorhin verschwunden ist.
    »Was ist passiert?«
    Eben will sie aufstehen und zu ihm gehen, als er in der Tür erscheint. In den Händen hält er eine kleine Leinwand.
    »Hier, ich wusste es gleich.«
    Dora sieht ihn argwöhnisch an.
    »Na gut, nicht gleich, aber jetzt bin ich mir auf jeden Fall sicher! Hier, sieh her!«
    Und Christian zeigt Dora ein Ölbild, eine kleine Studie des Meeres und seiner Bewohner. Er stellt es zu den Zeichnungen, die Dora ihm gebracht hat.
    »Alles klar, oder?«
    »Ja, alles klar. Er ist seines Vaters Sohn.« Pause. »Aber er hat Angst. Pass auf ihn auf. Vielleicht sollten sie sich …«
    »Sag nichts.«
     
    Es war nicht einfach, aber Luka hat es geschafft. Er sitzt auf dem Felsen, der sich in den letzten siebzehn Jahren nicht merklich verändert hat. Alles ist noch da. Der kleine Pinienbaum, der nicht größer geworden zu sein scheint. Die zahlreichen Krabbeltiere, die natürlich nicht dieselben von damals sind, aber dennoch genauso aussehen. Die Glätte des Steins, erfrischend und wärmend zugleich. Das Meer. Ewig. Blau, grün, grau, türkis.
    Luka holt tief Luft. Nein, er wird nicht in Ohnmacht fallen, er wird nicht anfangen zu zählen. Es gibt Wichtigeres. Vor dem er noch mehr Angst hat. Und trotzdem ist er sich sicher, dass es ihm gelingen wird, es zu tun. Eine Entscheidung zu treffen. Nein, nicht zu treffen, das ist schon geschehen. Sie durchzuziehen, das muss er jetzt schaffen.
    Luka legt sich auf den kühlen Stein. Beobachtet den Himmel. Es gibt keine Wolken. Der ganze Himmel ist eine stahlgraue Leinwand. Neben ihm liegen sein Gehstock und ein Rucksack. Im Rucksack das Neruda-Buch. Auf Spanisch, natürlich. Außerdem ein Zeichenblock und Malutensilien. Pinsel, Farben, Gläser, Tücher, Schwämme. Alles, was dazugehört. Schon von dem bloßen Gedanken an das, was er vorhat, zieht sich sein Herz zusammen, wie in einem Krampf, und er könnte weinen. Lange und bitter und voller Enttäuschung und Groll. Und unter all dem versteckt sich die Hoffnung auf etwas, womöglich auf ein Leben, auf das er nicht mehr zu hoffen gewagt hat. Seit Jahren schon. Jahrzehnten. Und dann ist da auch noch die Angst vor dieser Hoffnung.
    Denn seit einigen Tagen sieht die Welt anders aus. Er ist nämlich nicht mehr der Vater der Tochter, deretwegen er auf sein Leben verzichtet hat. Betrogen, belogen, bestohlen.
    Als er vor einigen Tagen aus dem Krankenhaus geflüchtet ist, ist er nach Hause gelaufen – wenn man sein Humpeln überhaupt Laufen nennen kann – und hat sich im Keller eingesperrt. Lange hat er da so gesessen, auf einem alten, wackligen Stuhl. Er hat geatmet. Stundenlang. Er ist sehr zufrieden gewesen mit seinen Atemzügen. Ein und aus, tief und langsam. Übung macht den Meister! Ein und aus. Mit geschlossenen Augen. Irgendwann, als es schon dunkel geworden war, ist er aufgestanden und sehr zielstrebig in den hinteren Teil des Kellers gegangen, in dem er seit Jahrzehnten nicht gewesen ist, und dennoch hat er ganz genau gewusst, wo sich das Gesuchte befindet. Zwei große Kisten. Er hat sie zum Stuhl und zum Licht getragen, sich hingesetzt und wieder Atemübungen gemacht. Mut gesammelt.
    Dann hat Luka die erste Kiste geöffnet. Farben, Blöcke, Skizzen, Stifte, Tücher, kleinere Leinwände, unvollendete Bilder. Der Geruch des Glücks. Der Selbstverwirklichung. Tränen sind seine Wangen hinuntergekullert, unaufhaltsam und unaufgehalten. Seine Finger haben gezittert, ungeduldig und ängstlich. Konnte man sein Talent verlieren? Vergessen? Und was, wenn er nicht mehr malen konnte? Wenn die Fähigkeit verschwunden war? Vernachlässigt? Beleidigt? Luka hat sich die Hände an seiner alten und ausgewaschenen Jeans gerieben. Er hat die offene Kiste lange betrachtet. Er hat gewusst, was darin war, und trotzdem wollte er sie nicht zur Seite schieben. Er wollte sie vor
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