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Das Erbe des Atoms

Das Erbe des Atoms

Titel: Das Erbe des Atoms
Autoren: A. E. van Vogt
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1.
     
    Den ganzen Tag lang standen Tempelschüler an den Glockensträngen bereit, um eine wichtige Geburt zu verkünden. Am Abend, als das erwartete Signal noch immer nicht gekommen war, tauschten sie voneinander abweichende Meinungen über die möglichen Gründe der Verzögerung aus.
    Tatsächlich war das erwartete Kind schon in den frühen Morgenstunden zur Welt gekommen, wenige Stunden nach Tagesanbruch – ein schwächlicher und kränkelnd scheinender kleiner Junge, der bestimmte charakteristische Merkmale zeigte, die am Hof des Oberherrn zu Bestürzung und Verdruß führten. Nach ihrem Erwachen lauschte seine Mutter, die Prinzessin Tania, eine Weile seinem jämmerlichen Gewinsel, dann bemerkte sie scharf: »Wer hat den kleinen Wicht erschreckt? Er scheint schon Angst vor dem Leben zu haben.«
    Gelehrter Joquin, der die Geburt beaufsichtigt hatte, betrachtete ihre Worte als ein schlechtes Omen. Er hatte die Absicht gehabt, ihr das kleine Monstrum erst am folgenden Tag zu zeigen, aber nun schien es ihm, daß er rasch handeln müsse, um Unheil abzuwenden. Eilig beauftragte er ein halbes Dutzend Sklavinnen, den Wagen hereinzufahren, und dann befahl er ihnen, sich ringsherum zu gruppieren, um jedwede bösartige Strahlung abzuwehren, die im Schlafzimmer vorhanden sein mochte.
    Prinzessin Tania lag im Bett, den Oberkörper von großen Kissen gestützt, als die Prozession zur Tür hereinkam. Sie beobachtete sie mit erstauntem, dann alarmiertem Stirnrunzeln. Sie war eine herrische, direkte Natur, und die Anwesenheit eines Gelehrten hinderte sie nicht daran, ihren Gefühlen Ausdruck zu geben.
    Heftig sagte sie: »Was geht hier vor, Joquin?«
    Joquin schüttelte bekümmert den Kopf und hob besänftigend beide Hände. Begriff sie nicht, daß jedes zu diesem Zeitpunkt gesprochene böse oder verdrießliche Wort das Kind zu weiterem Unheil verurteilte? Mit Erschrecken bemerkte er, daß sie den Mund öffnete, um wieder zu sprechen – und mit einem Stoßgebet zu den Göttern nahm er sein Leben in seine Hände.
    Er tat drei schnelle Schritte auf das Bett zu und verschloß ihren Mund mit seiner Hand. Wie er erwartet hatte, war die Frau so verblüfft, daß sie nicht gleich Widerstand leistete. Als sie sich von ihrer Verblüffung erholt hatte und sich zu wehren begann, wurde der Wagen zur Seite geneigt. Und über seinen Arm hinweg sah sie zum ersten Mal den Säugling.
    Der Sturm, der sich auf ihrer Stirn zusammenzuziehen begonnen hatte, wich. Nach einem Moment nahm Joquin behutsam seine Hand von ihrem Mund und zog sich langsam hinter den Wagen zurück. Dort stand er, zitternd und verzagt bei dem Gedanken, was er getan hatte; doch allmählich, als ihn vom Krankenbett kein verbaler Blitzschlag traf, begann sich ein Hochgefühl in ihm auszubreiten, und später behauptete er oft, daß seine Tat die Situation gerettet habe, soweit sie überhaupt zu retten gewesen wäre.
    Die Frau sah ihr Kind nun genauer. Und Joquin betrachtete sie. Er war überrascht, wieviel er selbst bei der ersten Untersuchung übersehen hatte. Sein zweiter Eindruck war noch schlimmer als der erste. Das Kind hatte einen für seinen schwächlichen Körper viel zu großen Kopf. Schultern und Arme wiesen deutlich sichtbare Deformierungen auf. Die Schultern fielen so steil ab, daß der Körper fast dreieckig erschien. Die Arme wirkten verdreht, als sei der Knochen – und mit ihm Muskeln und Haut – einmal ganz herumgedreht worden. Die Brust des Jungen war extrem abgeflacht, und durch die gespannte Haut zeichneten sich sämtliche Rippen ab. Der Brustkorb war ein verwachsenes Knochengeflecht, das viel zu lang war und fast auf den Beckenknochen ruhte.
    Das war alles. Aber es war offensichtlich genug, denn die Prinzessin schluckte mühsam.
    Joquin, der sie fast die ganze Zeit beobachtet hatte, sagte eilig: »Dies ist das schlimmste Stadium, Prinzessin. Der natürliche Wachstumsprozeß mildert diese Dinge später ab, und nach ein paar Jahren haben wir häufig relativ zufriedenstellende Resultate.«
    Er wartete unbehaglich, aber alles, was sie schließlich sagte, war: »Ist der Oberherr, der Großvater des Kindes, dagewesen?«
    Joquin neigte den Kopf. »Der Oberherr sah es wenige Minuten nach der Geburt. Sein einziger Kommentar war, daß ich mich um Euch kümmern und mich vergewissern solle, daß Euer Befinden gut ist.«
    Sie antwortete nicht sofort, doch ihre Augen wurden noch schmaler. Ihr dünnes Gesicht verhärtete sich. »Es wird Ihnen klar sein«, sagte sie,
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