Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Jeden Tag, Jede Stunde

Jeden Tag, Jede Stunde

Titel: Jeden Tag, Jede Stunde
Autoren: Natasa Dragnic
Vom Netzwerk:
vorgekommen sind und nie vorkommen werden, die zu gefährlich und völlig unmöglich sind, und ihm ist nach Zählen zumute.
    Der Felsen ist hoch und steil und kahl. Bevor er aber ins Meer stürzt, streckt er noch ganz leicht die Zunge heraus und bildet so ein kleines, von Wellen geglättetes Plateau, auf dem man sich ausbreiten kann, vorausgesetzt man schafft es, herunterzukommen – was heißt, man kennt den Weg. Da der Felsen nicht nur steil ist, sondern auch nach innen schräg abfällt, sieht man das Plateau von oben nicht. Es ist ein Geheimnis. Doras und Lukas Geheimnis. Sie haben im Jahr zuvor von einer anderen, benachbarten Klippe einen verwachsenen Pfad zum Meer gefunden und von da aus dann einen engen, beängstigend dunklen Tunnel, der zum Plateau führt. Eigentlich war es Dora, die sowohl den Pfad als auch den Tunnel entdeckt hat. Die Plateauoberfläche ist glatt und weich, sodass man sich auch ohne Badetuch darauflegen kann. Aus dem Felsen, über dem Plateau, wächst ein kleiner, runder Pinienbaum. Einfach so. Aus dem Stein. Wie aus dem Nichts. Durch den schrägen Fall des Felsens entsteht an der Stelle, wo er dem Plateau begegnet, eine kleine, unbequeme Höhle. Ein Versteck, das sogar vor Regen schützt, und auch die Sonne hat keine Eintrittsgenehmigung, vor allem im Sommer, wenn sie ganz hoch am Himmel schwebt. Und da sie höher liegt als das Ende des Plateaus, können auch die Wellen sie nicht erreichen. Wenn Dora und Luka nicht da sind, wird sie von Krabben, Ameisen und winzigen, durchsichtigen Meeresurtieren bewohnt, immer wieder finden sie deren Überreste, die sie dann ins Meer schmeißen. Und in diesem Frühjahr hat eine Schwalbe ihr Nest in der Zwergpinie gebaut. Luka hat ein Bild von der frisch gebackenen Familie gemalt, das er selbstredend Dora geschenkt hat. Ohne dass sie ihn danach gefragt hat. Was sie natürlich getan hätte, wäre er ihr nicht zuvorgekommen. Dieser Felsen ist ihr gemeinsames Zuhause. Zu den Inseln Brač und Hvar hin offen. Ohne Namensschild, ohne Türklingel. Ohne Tür. Und trotzdem ist es ihr Heim. Sonnenklar.
     
    »Ich habe nicht geweint.«
    »Lass uns schwimmen gehen.«
    Vor ihnen reiht das Meer eine Perlenkette aus schimmernden Babywellen.
    »Ich hab da was für dich, guck mal.« Dora hält ihm ihre mit Schokolade verschmierte Hand hin.
    »Was ist das?«
    »Schokolade. Man nennt sie Mozartkugel. Hat mir die Dame im Hotel gegeben, als ich ihr die Zeitung gebracht habe. Schmeckt lecker.«
    »Woher weißt du das? Vielleicht ist sie vergiftet!«
    »Warum sollte sie vergiftet sein? Du bist nur eifersüchtig«, sagt Dora fast traurig und beobachtet die immer kleiner werdende Kugel in ihrer Hand. »So was Leckeres hast du noch nie gegessen.«
    »Ich will sie nicht haben. Man darf nicht einfach alles essen, was man von Fremden geschenkt bekommt.«
    »Das weiß ich. Aber ich kenne die Frau. Sie ist schon letztes Jahr hier gewesen. Wir sind Freundinnen.«
    Luka kann wieder Tränen in ihrer Stimme hören. Er dreht sich um und eilt Richtung Felsen, bevor er mit den Augen rollt.
    »Das ist mir egal. Dann gehe ich allein schwimmen, und du kannst mit deiner besten Freundin Mozartkugeln essen! So ein blöder Name!«
    »Genau das mache ich! Dann geh ich eben mit ihr tauchen, du Ekel!«
    Sie hastet hinter ihm her. Bis zum Felsen. Dort setzt sie sich auf den staubigen Weg und fängt an, das schmucke Papier von der Schokolade zu entfernen. Die Kugel hat in der Hitze ihre Form eingebüßt. Dora stört das nicht. Sie steckt sie auf einmal in den Mund und leckt die Stelle auf der Hand, wo die Kugel gelegen hat.
    Luka beobachtet sie. Beobachtet die dunkelbraune Stelle auf ihrer Hand. Dann dreht er sich geschwind um und geht weiter. Er eilt, ist zu schnell, nicht vorsichtig genug und könnte leicht ausrutschen, aber es ist ihm egal, er muss so weit wie nur möglich von dem braunen Fleck auf Doras Hand wegkommen.
    »Was machst du? Du wirst runterfallen!« Dora steht schon auf und eilt hinter ihm her. Unaufhaltsam redet sie weiter. »Willst du dir das Genick brechen und ins Wasser fallen? Dann werde ich dich rausfischen müssen, und wenn du dann tot bist und nur so daliegen kannst, muss ich morgen alleine ins Muschelmuseum gehen, und wem werde ich dann alles zeigen und erklären können, wenn du tot bist und ich nur noch eine Leiche aus dem Meer rausfischen kann, und was soll ich wohl deinem Vater sagen oder deiner Mutter, die werden sagen, dass es meine Schuld ist, dass ich besser auf dich hätte
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher