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Jeden Tag, Jede Stunde

Jeden Tag, Jede Stunde

Titel: Jeden Tag, Jede Stunde
Autoren: Natasa Dragnic
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wehtun!«
    Luka versucht, ihre Hände aufzuhalten, aber sie lässt es nicht zu, sie kämpft, als ginge es um ihr Leben. Und hält dann plötzlich inne. Wie versteinert. Luka hat das Gefühl, er könnte aufhören zu atmen. Er fängt an, innerlich zu zählen. Niemand kann ihn hören, das weiß er ganz genau. Seine Lippen hat er so fest zusammengepresst, dass kein Laut herausrutschen kann. Er hat sogar daran gedacht, die Augen offen zu lassen. Nichts kann ihn verraten.
    »Und du wirst wieder in Ohnmacht fallen!« Dora versetzt ihm einen Stoß in den Bauch und entfernt sich schnell Richtung Felsen.
    Luka öffnet die Augen – also hat er sie doch geschlossen! Wie dumm von ihm! – und folgt ihr. Kurz bevor sie den Felsen erreicht, nimmt er ihre Hand – sie ist heiß und verschwitzt und glitschig – in seine und hält sie fest. Er hat seine Wahnsinnsmuskeln noch nicht, sein Wasserballtraining macht sich an seinem Körper noch nicht bemerkbar. Und doch ist sein Griff kraftvoll und unausweichlich.
    Dora bleibt stehen. Ganz von alleine. Luka muss nichts tun. Und da sind sie jetzt. Über ihrem Felsen. In der Hitze der Frühnachmittagssonne. Außer Atem.
    »Vielleicht sollten wir lieber mit dem Boot hinausfahren!«
    Lukas Stimme ist ganz dünn. Er hält Doras Hand. Er steht auf einem großen, ziemlich spitzen Stein, aber er sieht sich im Boot davonfahren, neben ihm Dora, die sich am Kabinenrand festhält, als hätte sie Angst, ins Meer zu fallen. Er muss grinsen. Natürlich würde sie nie zugeben, dass sie Angst hat, sie doch nicht! Aber er weiß es besser. Sie hat keine Angst vor dem Wasser, sie will nur nicht hineinfallen.
    Sie sind schon oft mit dem Boot seines Vaters hinausgefahren, das dürfen sie, solange sie in der Nähe der Küste bleiben und nicht länger als eine Stunde weg sind. Bis Bratuše und zurück. Oder bis Tučepi und zurück. Luka kennt das Boot seines Vaters wie Dora ihr Fahrrad. Er ist ein Meisterkapitän.
    »Ich will nicht.«
    Obwohl sie eigentlich nichts dagegen hat. Das weiß Luka. Sie liebt es, auf dem Boot zu sein, allein mit Luka, ein echtes Abenteuer. Unter ihr das Meer und all die Fische und unbekannte Tiefen. Über ihr der Himmel mit allen seinen Wolken, die, jede für sich, eine aufregende Geschichte erzählen, wenn man nur richtig zuhört. Man muss die Augen offen halten, aber nicht ganz, die Lider muss man ein wenig zusammenziehen, bis sie nur noch Schlitze sind, wie bei einem Chinesen. Dann kann man alles genauer erkennen.
    »Wieso nicht?« Luka versteht es nicht. Normalerweise will sie immer mit dem Boot fahren. Er erinnert sich noch an das erste Mal. Da durften sie nur bis zur Osejava fahren, während sein Vater und Doras Mutter im Hafen auf sie gewartet und sie die ganze Zeit nicht aus den Augen gelassen haben. Und trotzdem hatten sie Spaß und haben gekichert, und Dora ist fast ins Meer gefallen, als sie versucht hat, einen Delfin nachzuahmen, wie er sich biegt und springt. Sie haben noch nie einen gesehen, nur auf Bildern. Luka mag Delfine, er würde so gerne einmal einem begegnen. »Du würdest gleich sterben vor Angst, du würdest denken, es ist ein Hai«, hat Dora gelacht und wäre fast gleich noch einmal ins Wasser gefallen. Aber sie ist eine gute Schwimmerin. Beide sind sie gute Schwimmer. Wie Fische, sagt seine Mutter immer, die selbst nicht viel für das Meer übrig hat. Sie hat ihr halbes Leben »hinter den Bergen« verbracht, sie fürchtet sich vor dem Wasser und hat auch nie richtig schwimmen gelernt. Wenn sie überhaupt ins Wasser geht, dann nur dort, wo es seicht ist. »Sicher ist sicher«, sagt sie und sieht seinen Vater misstrauisch an. Lukas Papa lacht dann nur und küsst sie, oder zumindest hat er das früher getan, heute lacht er kaum noch und küsst sie noch seltener. Aber Luka will jetzt nicht daran denken, es wäre zu viel, wo doch der September vor der Tür steht und Dora auf einmal nicht mehr mit dem Boot fahren will. Es wird allmählich alles zu viel. Und er weiß nicht, was er tun soll. Er ist erst neun Jahre alt, er hat nicht einmal seine erste Trainingssaison hinter sich!
    »Ich will runtergehen, zum Felsen«, sagt sie bockig, aber ihr Gesicht hat etwas Verträumtes, als hätte er sie soeben aus dem Schlaf gerissen.
    »Wie du willst.« Aber du hast nicht mehr viel Zeit, schreit es in seinem Kopf. Bald ist alles vorbei, und wir können nicht mehr zusammen in meinem Boot auf den Wellen reiten, und er stellt sich die wildesten Bilder vor, Ereignisse, die nie
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