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Gesang der Daemmerung

Gesang der Daemmerung

Titel: Gesang der Daemmerung
Autoren: Megan MacFadden
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Kapitel 1
    War sie aufgewacht oder träumte sie noch? Marian war sich nicht sicher. Falls es sich hier um einen Traum handelte, war er erstaunlich nah an der Wirklichkeit, denn sie lag in ihrem wackligen Eisenbett im Schlafsaal des Mädchenpensionats. Falls sie aber wach sein sollte – weshalb hatte sie dann dieses seltsam schwebende Gefühl? Es war eine Empfindung, als weilte sie in einer fremden Dimension, in einer sanften und doch beunruhigenden Welt, in der alles möglich war: das Wunderbare, das Beglückende, aber auch das Schreckliche. Eben wie in einer Traumwelt.
    Es war die Zeit zwischen Nacht und Morgengrauen. Der Schlafsaal lag noch in tiefer Dämmerung, die Laterne, die nachts immer neben der Eingangstür auf einem hölzernen Schemel stand, war jedoch schon erloschen. Durch die Vorhänge an den hoch angesetzten Fenstern des Saals drang kaum merklich ein erstes fahles Morgenlicht. Nein, sie musste wach sein, sonst hätte sie doch die Schlafgeräusche der Mädchen nicht so deutlich vernommen: Lisas leises Schnarchen und Blasen, Kates beständiges Husten, das Knarren und Quietschen der Metallbetten, wenn eine der Schlafenden sich auf die andere Seite drehte.
    Der Saal bestand aus einem schmucklosen, lang gezogenen Raum, in der Mitte von sechs Säulen aus Eichenholz gestützt, rechts und links davon waren die Betten der Mädchen aufgereiht. Es gab für jede der zweiundvierzig Pensionatszöglinge einen Nachttisch – ein ziemlich verschrammtes Möbelstück, das eine Schublade und ein Fach mit zwei Einlegeböden besaß. Dort war Platz für Schachteln, Büchlein, kleine Heimlichkeiten, die nicht für die Augen und Finger der anderen Mädchen bestimmt waren. Abschließen konnte man das Fach nicht. Außer dem Nachttisch und dem Bett stand jedem Mädchen ein schmaler Spind für seine Kleider zur Verfügung – das war alles, was man für sich allein hatte. Auch Bett, Nachttisch und Spind stellten im Grunde nichts Eigenes, sondern Allgemeingut dar. Die Möbel kennzeichneten Kratzer und Scharten zahlloser Vorgängerinnen und ohne Zweifel würden sie, von Marians Gebrauchsspuren ergänzt, später einem anderen Mädchen zugewiesen werden.
    Der Morgen graute. Marian konnte inzwischen die ersten beiden Säulen erkennen. Auch einige Betten, die sich in ihrer Nähe befanden, traten aus der Dämmerung hervor. Der Schemel mit dem erloschenen Nachtlicht war jedoch zu weit entfernt. Er verschmolz mit der Wand, genau wie die Eingangstür des Saals und das große schon etwas schadhafte Gemälde, auf dem eine herbstliche Landschaft mit einer Jagdgesellschaft abgebildet war. Das alles war ihr wohlvertraut, es gehörte seit fast zwei Jahren zu ihrem täglichen Leben, ebenso wie der schmale Waschraum nebenan mit den vielen Porzellanbecken und das Speisezimmer mit den zerkratzten Tischen und Stühlen. Und doch hatte Marian jetzt wieder das Gefühl, sich in einem Traum zu befinden. Standen einige der Fenster offen? Es musste wohl so sein, sonst hätten sich doch die Vorhänge nicht gebauscht. Konnte das schwache Morgenlicht bewegliche Schatten im Saal erzeugen?
    Etwas Graues strich an der schwarzen Form einer Säule vorüber, ähnlich einem Nebelstreifen oder einem Wesen, das ein weites schleierartiges Gewand trug.
    Das wird Miss Woolcraft sein, überlegte Marian. Sie ist im Nachtgewand und geht auf Zehenspitzen zwischen den Betten umher, damit keine von uns aufwacht. Weshalb tut sie das wohl? Ob Emily wieder einmal einen verbotenen Liebesroman von zu Hause mitgebracht hat?
    Ein wenig spürte Marian jetzt ihr Herz klopfen, nicht besonders heftig, aber doch lauter und rascher als zuvor. Ihre Vermutung erwies sich als falsch. Die seltsame Erscheinung hatte sich einem der Fenster genähert, war im fahlen Morgenlicht durchsichtig geworden und schließlich zerfallen. Es konnte also auf keinen Fall die füllige und überaus erdenschwere Miss Woolcraft gewesen sein, die den Mädchen Unterricht in Schönschrift, Handarbeit und englischer Literatur erteilte. Und doch war Marian sicher, dass zwischen den Betten der schlafenden Mädchen ein Wesen umhergegangen war, das ihre Gesichter und Körper musterte, als suchte es etwas, das ihm verloren gegangen war.
    Marian verspürte bei dieser Erkenntnis keine Angst. Was sie wahrnahm, war ja eine Traumerscheinung, und der Traum hatte nichts Erschreckendes an sich, er war nur seltsam und machte sie neugierig. Wenn dieses Wesen sich in der Nähe der Fenster auflöste, dann vertrug es wohl das Morgenlicht
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