Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
James, Henry

James, Henry

Titel: James, Henry
Autoren: Benvolio
Vom Netzwerk:
Weise als Verdienst anrechne, denn ich bin überzeugt, selbst der impertinenteste Kerl (wer immer er auch sei) käme nicht auf den Gedanken, sich dieser jungen Dame gegenüber Freiheiten herauszunehmen, ohne dass ihm dies unmissverständlich gestattet worden wäre. Diese unergründlichen dunklen Augen haben etwas äußerst Einhaltgebietendes. Ich erwähne das lediglich, weil ich es in künftigen Jahren, wenn meine bezaubernde Freundin nur noch ein ferner Schatten sein wird, beim Durchblättern dieser Seiten als erfreulich empfinden werde, schriftliches Zeugnis für das eine oder andere zu finden, was ich sonst wahrscheinlich allein meiner Phantasie zuschriebe. Ich frage mich, ob Miss Blunt, wenn sie dereinst die Register ihres Gedächtnisses nach irgendeinem trivialen Sachverhalt, nach irgendeinem prosaischen Datum oder halb verschütteten Markstein durchsucht, auch auf dieses unser kleines Geheimnis, wie ich es nennen darf, stoßen und eine alte verblasste, von den Aufzeichnungen der nachfolgenden Jahre überschriebene Notiz ähnlichen Inhalts entziffern
wird. Natürlich wird sie das. Nüchtern betrachtet ist sie eine Frau mit einem ausgezeichneten Gedächtnis. Ob sie jemand ist, der vergibt, oder nicht, weiß ich nicht; aber sicher ist sie niemand, der vergisst. Zweifellos ist Tugend um ihrer selbst willen erstrebenswert, doch verschafft es doppelte Befriedigung , zu einem Menschen höflich zu sein, der dies zu würdigen weiß. Ein weiterer Grund für mein erfreulich gutes Verhältnis zum Kapitän ist, dass ich ihm die Möglichkeit biete, seine eingerostete Weltläufigkeit wieder aufzupolieren und mit seinen zuweilen recht kuriosen, bruchstückhaften Kenntnissen altmodischer Lektüre zu renommieren. Es ist ihm eine Wonne, sein fadenscheiniges Seemannsgarn vor einem einfühlsamen Zuhörer zu spinnen. Diese warmen Juliabende im süß duftenden Garten sind genau der richtige Rahmen für seine liebenswerte Redseligkeit. In diesem Punkt besteht zwischen uns eine recht sonderbare Beziehung. Wie viele seiner Berufskollegen vermag der Kapitän dem Drang zum Aufschneiden und Fabulieren nicht zu widerstehen, selbst wenn es um Themen geht, die sich dafür gar nicht eignen, und es ist äußerst vergnüglich zu beobachten, wie er seinen Zuhörer gleichsam auf die Stimmung in seinem tiefsten Innern hin abhorcht,
um sich zu vergewissern, ob dieser auch bereit sei, seine hinterlistigen Flunkereien zu schlucken. Bisweilen gehen diese beim Erzählen indes völlig unter: Im unerschöpflichen Sammelbrunnen der meerwassergetränkten Phantasie des Kapitäns sind sie, wie ich mir wohl vorstellen kann, sehr hübsch, doch die Verpflanzung in die seichten Binnenseen meiner vom Leben an Land geprägten Denkart verkraften sie nicht. Dann wieder, wenn der Zuhörer sich in einer verträumten, sentimentalen Stimmung befindet, in der er seine Prinzipien ganz und gar vergisst, trinkt er das Salzwasser, das der alte Mann ihm einschenkt, eimerweise, ohne sich dabei schlecht zu fühlen. Was ist schlimmer – eine hübsche kleine Lüge, die niemandem schadet, vorsätzlich zu erzählen oder vorsätzlich zu glauben? Vermutlich kann man nicht vorsätzlich glauben; man gibt nur vor zu glauben. Meine Rolle in dem Spiel ist deshalb fraglos ebenso verwerflich wie die des Kapitäns. Vielleicht finde ich an seinen schönen Verdrehungen der Tatsachen Gefallen, weil ich mich selbst einer solchen Verdrehung bediene, weil ich selbst unter völlig falscher Flagge segle. Ich frage mich, ob meine Freunde Verdacht geschöpft haben. Wie sollten sie? Ich bilde mir ein, meine Rolle im Großen und Ganzen
recht gut zu spielen. Ich bin erfreut, dass es mir so leicht fällt. Damit meine ich nicht, dass es mir wenig Mühe bereitet, auf den Luxus und die tausend kleinen Annehmlichkeiten zu verzichten, die mir früher zu Gebote standen – diesen habe ich mich, dem Himmel sei Dank, nie so mit Leib und Seele verschrieben, dass nicht ein einziger heilsamer Schock die Bande hätte lösen können –, sondern dass es mir besser als erwartet gelingt, jene unzähligen stillschweigenden Anspielungen zu unterdrücken, die mich ernsthaft verraten könnten.

    Sonntag, 20. Juli. – Dies war ein sehr erfreulicher Tag für mich, obwohl ich natürlich keinerlei Arbeit nachgegangen bin. Am Vormittag hatte ich ein entzückendes tête-à-tête mit meiner Gastgeberin. Sie hatte sich beim Treppensteigen den Knöchel verstaucht und war deshalb gezwungen, zu Hause auf dem Sofa zu bleiben, anstatt
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher