Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
James, Henry

James, Henry

Titel: James, Henry
Autoren: Benvolio
Vom Netzwerk:
erwidert? Lassen Sie mich überlegen. Hat er jemals gesagt, Sie seien ein wenig affektiert? »
    « Nein, er hat es Ihnen überlassen, mir das auf diese äußerst geistreiche Art zu sagen. Vielen Dank, Sir.»
    « Er hat es mir überlassen, das zu bestreiten –
was wesentlich angenehmer ist. Halten Sie meine Art für geistreich?»
    « Ich halte das Ganze in Anbetracht des Tages und der Stunde für sehr profan, Mr Locksley. Wie wäre es, wenn Sie gingen und mich in meiner Bibel lesen ließen?»
    « Und was soll ich unterdessen tun?», fragte ich.
    « Lesen Sie in Ihrer Bibel, sofern Sie eine haben. »
    « Ich habe keine.»
    Ich war dennoch gezwungen, mich zurückzuziehen, allerdings nicht ohne das Versprechen erhalten zu haben, dass sie mir in einer halben Stunde erneut eine Audienz gewähren werde. Die arme Miss Blunt ist es ihrem Gewissen schuldig, eine bestimmte Anzahl von Kapiteln zu lesen. Was für eine reine, aufrechte Seele sie ist! Und welch ein erbauliches Schauspiel bietet doch ein gut Teil der weiblichen Frömmigkeit! Frauen finden für alles einen Platz in ihren geräumigen kleinen Köpfen, geradeso wie sie in ihren bewunderungswürdig unterteilten Koffern für alles einen Platz finden, wenn sie auf Reisen gehen. Ich bezweifle nicht, dass diese junge Dame ihre Religion geradeso wie ihre Sonntagshaube in einer Ecke verstaut – und sie, wenn
der geeignete Augenblick gekommen ist, wieder hervorholt und nachdenklich betrachtet, während sie sie vor dem Spiegel aufsetzt und den lediglich eingebildeten Staub wegbläst, denn welcher weltliche Schmutz kann schon ein halbes Dutzend Lagen Batist und Seidenpapier durchdringen. Du meine Güte, wie tröstlich ist es, einen hübschen, sauberen Feiertagsglauben zu haben! – Als ich ins Wohnzimmer zurückkam, saß Miss Blunt noch immer mit ihrer Bibel im Schoß da. Aus irgendeinem Grund war ich nicht mehr zum Scherzen aufgelegt. So fragte ich sie ganz nüchtern und sachlich, was sie gelesen habe. Und sie antwortete mir ebenso nüchtern und sachlich. Sie erkundigte sich, wie ich meine halbe Stunde verbracht hätte.
    « Mit dem Denken guter Sabbatgedanken», sagte ich.«Ich war im Garten spazieren.»Und dann sagte ich frei heraus, was mir auf der Seele lag.«Ich habe dem Himmel dafür gedankt, dass er mich, einen armen, einsamen Wanderer, in einen so friedvollen sicheren Hafen geführt hat.»
    « Sind Sie denn so arm und einsam?», fragte Miss Blunt recht unvermittelt.
    « Haben Sie jemals von einem Kunststudenten unter dreißig gehört, der nicht arm gewesen wäre?», erwiderte ich.«Auf mein Wort, ich muss
mein erstes Bild erst noch verkaufen. Und was meine Einsamkeit angeht, so gibt es auf der ganzen Welt keine fünf Menschen, denen wirklich etwas an mir liegt.»
    « Wirklich etwas an Ihnen liegt? Ich fürchte, Sie nehmen es zu genau. Außerdem halte ich fünf gute Freunde für eine ganze Menge. Ich schätze mich mit zweien schon sehr glücklich. Aber wenn Sie keine Freunde haben, sind Sie wahrscheinlich selbst daran schuld.»
    « Vielleicht», sagte ich, während ich im Schaukelstuhl Platz nahm,«vielleicht aber auch nicht. Finden Sie mich denn so schrecklich abweisend? Finden Sie mich nicht vielmehr recht gesellig?»
    Sie verschränkte die Arme und schaute mich einen Augenblick lang schweigend an, ehe sie antwortete. Es würde mich nicht wundern, wenn ich ein wenig rot geworden wäre.
    « Mit einem Wort, Mr Locksley, Sie möchten ein Kompliment hören. Ich habe Ihnen kein einziges Kompliment gemacht, seit Sie hier sind. Wie sehr müssen Sie gelitten haben! Aber es ist schade, dass Sie nicht noch ein Weilchen gewartet haben, anstatt jetzt einen so plumpen Köder auszulegen. Für einen Künstler zeigen Sie wenig künstlerisches Gespür. Männer können einfach nicht warten. Finde ich Sie ‹abweisend›? Finde
ich Sie nicht ‹gesellig›? Angesichts dessen, was mir durch den Kopf geht, ist es vielleicht doch gar nicht so schlecht, dass Sie ein Kompliment hören wollten. Ich finde Sie charmant. Ich sage das ganz offen; aber ebenso aufrichtig sage ich auch, dass meiner Meinung nach nur sehr wenige andere Menschen Sie charmant fänden. Ich kann entschieden behaupten, dass Sie nicht gesellig sind. Dafür sind Sie viel zu wählerisch. Sie sind mir gegenüber aufmerksam, weil Sie wissen, dass ich weiß, dass Sie es sind. Sehen Sie, das ist der entscheidende Punkt: Ich weiß, dass Sie wissen, dass ich es weiß. Unterbrechen Sie mich nicht; ich werde jetzt meine ganze
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher