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James, Henry

James, Henry

Titel: James, Henry
Autoren: Benvolio
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sich auf den Weg zur Sonntagsschule und zum Gottesdienst zu machen. Der Kapitän, der es mit der Frömmigkeit sehr genau nimmt, brach allein auf. Als ich ins Wohnzimmer kam, während gerade die Kirchenglocken läuteten, fragte mich Miss Blunt, ob ich denn nie zum Gottesdienst ginge.

    « Nie, wenn es zu Hause Besseres zu tun gibt», sagte ich.
    « Was kann besser sein, als in die Kirche zu gehen?», fragte sie mit bezaubernder Naivität.
    Sie saß zurückgelehnt auf dem Sofa, den Fuß auf einem Kissen, die Bibel auf dem Schoß. Sie wirkte keineswegs betrübt, weil sie dem Gottesdienst fernbleiben musste, und anstatt ihre Frage zu beantworten, nahm ich mir die Freiheit, ihr das auch zu sagen.
    « Ich bedauere aber, dass ich nicht hingehen kann», erklärte sie.«Wissen Sie, es ist in der ganzen Woche die einzige Geselligkeit für mich.»
    « Sie sehen es also als Geselligkeit», sagte ich.
    « Ist es nicht schön, seine Bekannten zu treffen? Ich gebe zu, die Predigt interessiert mich nie sonderlich, und die Kinder unterrichte ich auch nur ungern. Aber ich trage gern meine beste Haube und singe gern im Chor und spaziere auf dem Heimweg auch gern ein Stück mit…»
    « Mit wem?»
    « Mit jedem, der sich anbietet, mich zu begleiten. »
    « Mit Mr Johnson, zum Beispiel», sagte ich.
    Mr Johnson ist ein junger Anwalt aus dem Dorf, der hier einmal in der Woche einen Besuch
macht und dessen Aufmerksamkeiten Miss Blunt gegenüber bereits registriert werden.
    « Ja», antwortete sie,«mit Mr Johnson, zum Beispiel.»
    « Er wird Sie sicherlich sehr vermissen!»
    « Wahrscheinlich. Wir singen aus dem gleichen Gesangbuch. Worüber lachen Sie? Er gestattet mir liebenswürdigerweise, das Buch zu halten, während er mit den Händen in den Taschen neben mir steht. Letzten Sonntag habe ich die Geduld verloren. ‹Mr Johnson›, habe ich gesagt, ‹halten Sie doch bitte das Buch! Wo bleiben Ihre Manieren?› Da hat er mitten in der Lesung laut aufgelacht. Heute wird er das Buch zweifellos selbst halten müssen.»
    « Was für eine ‹feinsinnige Seele› er ist! Ich nehme an, er wird nach dem Gottesdienst vorbeikommen. »
    « Vielleicht. Ich hoffe es.»
    « Ich hoffe, er kommt nicht», sagte ich unverblümt.« Ich werde mich hier zu Ihnen setzen und mich mit Ihnen unterhalten, und ich möchte nicht, dass unser tête-à-tête gestört wird.»
    « Haben Sie mir etwas Bestimmtes zu sagen?»
    « Nichts so Bestimmtes wie Mr Johnson vielleicht. »
    Miss Blunt hat eine sehr hübsche Art, größere
Sachlichkeit vorzutäuschen, als ihrem Wesen tatsächlich zu eigen ist.
    « Dann hat er weitaus größere Rechte als Sie», sagte sie.
    « Ach, Sie geben zu, dass er Rechte hat?»
    « Keineswegs. Ich stelle lediglich fest, dass Sie keine haben.»
    « Sie irren sich. Ich habe Anrechte, die ich geltend machen werde. Ich habe ein Anrecht auf Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit, wenn ich Ihnen einen Morgenbesuch abstatte.»
    « Ihrem Anrecht wird natürlich Rechnung getragen. Bitte sagen Sie: War ich unhöflich?»
    « Unhöflich vielleicht nicht, aber taktlos. Es hat Sie nach der Gesellschaft eines Dritten verlangt, und Sie können nicht erwarten, dass ich davon begeistert bin.»
    « Und warum nicht, bitte schön? Wenn ich, eine Dame, mich mit Mr Johnsons Gesellschaft abfinden kann, weshalb sollten Sie, sein Geschlechtsgenosse, es dann nicht auch können?»
    « Weil er so unerhört eingebildet ist. Aber Sie als Dame, oder jedenfalls als Frau, mögen eingebildete Männer ja.»
    « Ach tatsächlich? Ich bezweifle nicht, dass ich, als Frau, alle möglichen ungehörigen Vorlieben habe. Das ist eine alte Geschichte.»

    « Geben Sie wenigstens zu, dass unser Freund eingebildet ist.»
    « Zugeben? Ich habe das schon hundertmal gesagt. Ich habe es ihm selbst schon gesagt.»
    « In der Tat! Dann ist der Punkt also bereits erreicht?»
    « Welcher Punkt, bitte?»
    « Jener kritische Punkt in der Freundschaft zwischen einer Dame und einem Herrn, an dem sie einander alle möglichen ergötzlichen Vorwürfe an den Kopf werfen und sich gegenseitig moralischer Verirrungen beschuldigen. Seien Sie auf der Hut, Miss Blunt! Zwei intelligente Neuengländer beiderlei Geschlechts, jung, unverheiratet, sind sich schon recht nahegekommen, wenn sie beginnen, sich gegenseitig moralische Vorhaltungen zu machen. Sie haben Mr Johnson also gesagt, er sei eingebildet? Und vermutlich haben Sie hinzugefügt, er sei überdies schrecklich sarkastisch und pietätlos. Was hat er darauf
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