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James, Henry

James, Henry

Titel: James, Henry
Autoren: Benvolio
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möglichen Themen, von denen nur wenige von allgemeinem Interesse sind. Einen Teil davon schätze ich allerdings sehr – jenen nämlich, der sein privates Tagebuch ausmacht. Es umfasst den Zeitraum zwischen seinem fünfundzwanzigsten und seinem dreißigsten Lebensjahr, in dem die Aufzeichnungen
dann plötzlich abbrechen. Wenn Sie mich zu Hause aufsuchen, werde ich Ihnen die Skizzen und Gemälde zeigen, die sich in meinem Besitz befinden, und Sie, wie ich zuversichtlich glaube, zu meiner Überzeugung bekehren, dass er das Zeug zu einem großen Maler hatte. Unterdessen will ich Ihnen die letzten hundert Seiten seines Tagebuchs vorlegen, als Antwort auf Ihre Frage, wie die mächtige Nemesis 3 sein Verhalten Miss Leary gegenüber, seine Verschmähung der erhabenen Venus Victrix 4 , abschließend beurteilte. Das noch nicht lange zurückliegende Ableben der Person, die bei der Verfügung über Locksleys persönliche Habe mehr zu sagen hatte als ich, versetzt mich in die Lage, agieren zu können, ohne mir Zurückhaltung auferlegen zu müssen.

    Cragthorpe, 9. Juni. – Die Feder in der Hand, saß ich einige Minuten lang da und überlegte, ob ich auf diesem neuen Boden, unter diesem neuen Himmel diese sporadischen Berichte über meinen Müßiggang fortführen sollte. Ich denke, ich werde den Versuch auf jeden Fall wagen. Und wenn’s misslänge, so misslingt’s, wie Lady Macbeth bemerkt. 5 Ich stelle fest, meine Einträge sind dann am längsten, wenn mein Leben
am langweiligsten ist. Deshalb hege ich keinen Zweifel, dass ich, einmal in die Eintönigkeit des dörflichen Lebens eingetaucht, von morgens bis abends dasitzen und vor mich hin kritzeln werde. Wenn nichts geschieht… Doch meine prophetische Seele sagt mir, dass etwas geschehen wird . Ich bin fest entschlossen, dafür zu sorgen, dass etwas geschieht – und wenn es nichts anderes ist, als dass ich ein Bild male.
    Als ich vor einer halben Stunde heraufkam, um zu Bett zu gehen, war ich todmüde. Jetzt, nachdem ich ein Weilchen aus dem Fenster gesehen habe, ist mein Verstand hellwach und klar, und ich habe das Gefühl, ich könnte bis zum Morgen schreiben. Aber leider habe ich nichts, worüber ich schreiben könnte. Und außerdem muss ich zeitig zu Bett, wenn ich früh aufstehen will. Das ganze Dorf schläft schon, nur ich gottloser Großstadtmensch bin noch auf! Die Lampen auf dem Platz vor dem Haus flackern im Wind; da draußen gibt es nichts außer vollkommener Dunkelheit und dem Geruch der ansteigenden Flut. Ich war den ganzen Tag auf den Beinen, bin mühsam von der einen Seite der Halbinsel zur anderen gewandert. Was für eine famose Frau Mrs M. doch ist, dass sie an diesen Ort gedacht hat! Ich muss ihr einen glühenden
Dankesbrief schreiben. Noch nie zuvor, so will mir scheinen, habe ich eine unberührte Küstenlandschaft gesehen. Noch nie zuvor habe ich an der Schönheit von Wellen, Felsen und Wolken Gefallen gefunden. Ich bin von einer sinnlichen Verzücktheit erfüllt ob des Lebens, des Lichtes und der Transparenz der Luft, die ihresgleichen suchen. Ich verstumme in ehrfürchtiger Bewunderung angesichts der großartigen Vielfalt an Farben und Geräuschen, die dem Ozean eigen sind, und dabei habe ich vermutlich bei weitem noch nicht alle erlebt. Ich kam hungrig, müde, mit wunden Füßen, sonnenverbrannt und schmutzig zum Abendessen zurück – glücklicher, kurz gesagt, als ich es in den letzten zwölf Monaten je war. Und nun möge der Pinsel triumphieren!

    11 . Juni . – Erneut ein Tag auf den Beinen und auch auf See. Ich habe heute Morgen beschlossen, dieses widerwärtige kleine Wirtshaus zu verlassen. Ich halte es in meinem Federbett keine weitere Nacht aus. Ich fasste den Entschluss, mir eine andere Aussicht zu suchen als auf den Stadtbrunnen und die Gemischtwarenhandlung. Nach dem Frühstück erkundigte ich mich bei meinem Wirt, ob es wohl möglich sei, in einem der Farm-oder
Landhäuser in der Umgebung unterzukommen. Doch mein Wirt konnte oder wollte mir nicht weiterhelfen. So beschloss ich, auf gut Glück loszugehen – mit offenen Augen die Gegend zu durchstreifen und an die Gastfreundschaft der Einheimischen zu appellieren. Doch noch nie sind mir Leute begegnet, denen es an dieser liebenswürdigen Eigenschaft derart mangelte. Bis zur Essenszeit hatte ich die Suche verzagt aufgegeben. Nach dem Mittagessen schlenderte ich zum Hafen hinunter, der sich ganz in der Nähe befindet. Die Klarheit des Wassers und die leichte Brise, die darüber
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