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James, Henry

James, Henry

Titel: James, Henry
Autoren: Benvolio
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vermutlich recht zurückhaltend und möglicherweise sehr stolz. Sie ist, kurz gesagt, eine Frau von Charakter. Da stehen Sie vor uns, Miss Blunt, in voller Lebensgröße – ganz entschieden das Bildnis einer Dame 8 . Nach dem Tee gab sie für uns im Wohnzimmer ein kleines Konzert. Ich gestehe, der Anblick des dämmrigen kleinen Raumes, der nur von einer einzigen Kerze auf dem Klavier und von der Ausstrahlung des Spiels von Miss Blunt erhellt wurde, entzückte mich mehr als die Musik selbst. Miss Blunt hat ganz offenkundig einen exzellenten Anschlag.

    18. Juni. – Nun bin ich schon fast eine Woche hier. Ich bewohne zwei sehr freundliche Zimmer. Mein Maleratelier ist ein riesiger, recht schmuckloser Raum mit sehr gutem Licht von Süden. Ich habe ihn mit einigen alten Drucken
und Skizzen herausgeputzt, und er ist mir schon sehr ans Herz gewachsen. Als ich mein künstlerisches Handwerkszeug so malerisch wie möglich angeordnet hatte, bat ich meine Gastgeber herein. Der Kapitän sah sich ein paar Sekunden schweigend um und erkundigte sich dann hoffnungsvoll, ob ich mich schon einmal an einem Schiff versucht hätte. Auf meine Antwort hin, dass mein Können dafür noch nicht ausreiche, verfiel er erneut in ehrerbietiges Schweigen. Seine Tochter lächelte anmutig, stellte freundlich Fragen und bezeichnete alles als entzückend und schön, was mich etwas enttäuschte, hatte ich sie doch für eine Frau gehalten, die eine gewisse Originalität besitzt. Sie gibt mir Rätsel auf. Oder ist sie vielleicht doch nur ein ganz gewöhnlicher Mensch, und der Fehler liegt bei mir, der ich Frauen stets weitaus mehr Bedeutung zumesse, als ihr Schöpfer ihnen zugedacht hat? Über Miss Blunt habe ich einige Fakten zusammengetragen. Sie ist nicht vierundzwanzig, sondern siebenundzwanzig Jahre alt. Seit ihrem zwanzigsten Lebensjahr gibt sie Musikunterricht an einem großen Pensionat, das in unmittelbarer Nähe der Stadt liegt und an dem sie einst selbst ihre Ausbildung erhielt. Das Gehalt, das sie an dieser – soweit ich weiß, leidlich florierenden
– Anstalt bezieht, bildet, zusammen mit den Einkünften aus einigen zusätzlichen Unterrichtsstunden, die Haupteinnahmequelle des Haushalts. Doch zum Glück gehört Blunt das Haus, und seine Ansprüche und Gewohnheiten sind von der einfachsten Art. Was wissen er oder seine Tochter schon von den angeblich so wichtigen weltlichen Bedürfnissen, der großen Bandbreite weltlicher Vergnügungen? Miss Blunts einziger Luxus sind ein Abonnement für die Leihbücherei und ein gelegentlicher Spaziergang am Strand, den sie, wie eine von Miss Brontës Heldinnen 9 , in Gesellschaft eines alten Neufundländers entlangschreitet. Ich fürchte, sie ist beklagenswert unwissend. Sie liest nichts außer Romanen. Doch darf ich annehmen, dass sie aus der Lektüre dieser Werke gewisse eigene praktische Erkenntnisse gezogen hat.«Ich lese alle Romane, deren ich habhaft werden kann», sagte sie gestern,«aber ich mag nur die guten. ‹Zanoni›, 10 den ich gerade ausgelesen habe, mag ich sehr.»Ich muss dafür sorgen, dass sie sich einige der Klassiker vornimmt. Ich wünschte, einige dieser mürrischen New Yorker Erbinnen sähen, wie diese Frau lebt. Und ich wünschte auch, ein halbes Dutzend von ces messieurs 11 aus den Klubs könnten heimlich einen Blick auf das
gegenwärtige Leben ihres bescheidenen Dieners werfen. Wir frühstücken um acht Uhr. Unmittelbar danach macht sich Miss Blunt, versehen mit einem schäbigen alten Hut und Umschlagtuch, auf den Weg zur Schule. Ist das Wetter schön, fährt der Kapitän zum Fischen hinaus, und ich bin mir selbst überlassen. Zweimal habe ich den alten Mann begleitet. Beim zweiten Mal hatte ich das Glück, einen großen Blaubarsch zu fangen, den es dann zum Abendessen gab. Der Kapitän ist ein Musterbeispiel eines unerschrockenen Seemanns mit seiner lose sitzenden blauen Kleidung, seinem extrem breitbeinigen Gang, seinem krausen weißen Haar und seinem fröhlichen wettergegerbten Antlitz. Er stammt aus einem englischen Seefahrergeschlecht. Das altertümliche Haus erinnert mehr oder weniger an eine Schiffskajüte. Zwei-, dreimal habe ich den Wind um seine Mauern pfeifen hören, als wäre man draußen auf offener See. Und irgendwie wird die Illusion durch die ungewöhnliche Intensität des Lichts noch geschürt. Von meinem Atelier aus lassen sich die Wolken wunderbar beobachten. Oft sitze ich eine geschlagene halbe Stunde lang da und schaue ihnen zu, wie sie vor meinen hohen,
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