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James, Henry

James, Henry

Titel: James, Henry
Autoren: Benvolio
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habe fleißig Skizzen angefertigt; nur ein paar Meilen entfernt habe ich einen großen, einsam gelegenen Teich entdeckt, der in eine recht eindrucksvolle Landschaft aus kahlen Felsen und grasbewachsenen Hängen eingebettet ist. Vom einen Ende aus hat man einen weiten Blick auf das offene Meer; am anderen steht, tief verborgen im Laub eines Apfelgartens, ein altes Bauernhaus, das so aussieht, als spukte es darin. Westlich des Teichs erstreckt sich eine weite Ebene
aus Fels und Gras, Strand und Marschland. Die Schafe weiden darauf wie auf einem Moor in den Highlands. Außer ein paar verkrüppelten Kiefern und Zedern ist kein Baum zu sehen. Möchte ich Schatten, suche ich ihn im Schutz eines der großen moosbewachsenen Findlinge, die ihre glitzernden Schultern der Sonne entgegenrecken, oder in einer der langgestreckten Talmulden, wo ein Gestrüpp aus Brombeersträuchern einen Tümpel säumt, in dem sich der Himmel spiegelt. Ich habe mein Lager gegenüber einem kahlen braunen Hügel aufgeschlagen, den ich, mit Fleiß und Ausdauer, auf die Leinwand banne; und da wir nun seit einigen Tagen den immer gleich heiteren Himmel hatten, ist es mir gelungen, eine recht erfreuliche kleine Studie beinahe fertigzustellen. Ich breche gleich nach dem Frühstück auf. Miss Blunt gibt mir, in eine Serviette eingewickelt, reichlich Brot und kaltes Fleisch mit, die ich zur Mittagszeit in meiner sonnigen Einöde in Sichtweite des schlummernden Ozeans mit meinen farbbeschmierten Fingern gierig an die Lippen führe. Um sieben Uhr kehre ich zum Abendessen zurück, bei dem wir einander die Geschichte unseres Tagewerks erzählen. Für die arme Miss Blunt ist es tagaus, tagein die gleiche Geschichte: eine
ermüdende Abfolge von Unterrichtsstunden in der Schule und in den Häusern des Bürgermeisters, des Pastors, des Metzgers und des Bäckers, deren junge Damen natürlich alle Klavierunterricht erhalten. Doch sie klagt nicht, ja sie sieht nicht einmal sehr müde aus. Wenn sie zum Abendessen ein frisches Baumwollkleid angezogen und die Haare wieder in Ordnung gebracht hat, wenn sie dann, dergestalt zurechtgemacht, mit ihren sachten Schritten leise hierhin und dorthin huscht, während sie unser Abendmahl zubereitet, in die Teekanne lugt, den großen Brotlaib aufschneidet, oder wenn sie sich auf die niedrige Stufe vor der Haustür setzt und ausgewählte Passagen aus der Abendzeitung vorliest, oder auch wenn sie, nach dem Essen, die Arme verschränkt (eine Haltung, die ihr besonders gut steht) und noch immer auf der Türstufe sitzend, den Abend in behaglicher Untätigkeit verplaudert, während ihr Vater und ich uns an einer wohlriechenden Pfeife gütlich tun und dabei zusehen, wie nach und nach die Lichter an verschiedenen Stellen der im Dunkel versinkenden Bucht aufleuchten: In diesen Augenblicken sieht sie so hübsch aus, so heiter, so unbeschwert, wie es einer verständigen Frau ansteht. Wie stolz der Kapitän auf seine Tochter ist! Und sie ihrerseits –
wie treu ist sie dem alten Mann ergeben! Ihre Anmut erfüllt ihn mit Stolz, ihr Feingefühl, ihre Urteilskraft, ihr Humor, so wie er ist. Er hält sie für die vollkommenste aller Frauen. Er umsorgt sie, als wäre sie nicht seine altvertraute Esther, sondern eine erst jüngst in die Familie aufgenommene Schwiegertochter. Und in der Tat, wäre ich sein eigener Sohn, könnte er nicht liebenswürdiger zu mir sein. Sie – nein, warum soll ich es nicht sagen? – wir sind fraglos ein sehr glücklicher kleiner Haushalt. Wird das immer so bleiben? Ich sage«wir», denn Vater wie Tochter haben mir – er direkt, sie, wenn ich mir nicht zu viel einbilde, nach Art ihres Geschlechts, indirekt – hundertmal versichert, ich sei bereits ein geschätzter Freund. Eigentlich ist es ganz natürlich, dass ich ihr Wohlwollen gewonnen habe, bin ich ihnen meinerseits doch stets mit ausgesuchter Höflichkeit begegnet. Der Weg zum Herzen des alten Mannes führt über ein beflissen achtungsvolles Auftreten seiner Tochter gegenüber. Ich glaube, er weiß, dass ich Miss Blunt verehre. Sollte ich jedoch jemals die Grenzen der Höflichkeit überschreiten, bekäme ich es zweifellos mit ihm zu tun. All dies ist, wie es sein sollte. Menschen, die mit Dollars und Cents geizen müssen, haben das Recht, in ihren Gefühlen anspruchsvoll zu
sein. Ich selbst bilde mir nicht wenig auf meine guten Manieren meiner Gastgeberin gegenüber ein. Dass mein Betragen bisher untadelig war, ist jedoch ein Umstand, den ich mir hier in keiner
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