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Traveler - Roman

Traveler - Roman

Titel: Traveler - Roman
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag <München>
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PROLOG
RITTER, TOD UND TEUFEL
    A ls Maya zusammen mit ihrem Vater zum Ausgang des U-Bahnhofs ging, nahm sie seine Hand. Ausnahmsweise schob Thorn ihre Hand nicht weg und sagte ihr auch nicht, sie solle sich auf ihre Körperhaltung konzentrieren. Stattdessen führte er sie lächelnd eine schmale Treppe hinauf, die an einem langen, ansteigenden Tunnel mit weiß gekachelten Wänden endete. Die U-Bahn-Verwaltung hatte auf einer Seite des Tunnels Metallstangen anbringen lassen, und durch diese Begrenzung wirkte der ansonsten völlig normale Gang, als wäre er Teil eines riesigen Gefängnisses. Wäre Maya allein gewesen, hätte sie sich eingesperrt und unbehaglich gefühlt, aber sie brauchte sich keine Sorgen zu machen, denn Vater war bei ihr.
    Heute ist der schönste Tag meines Lebens, dachte sie. Na ja, wahrscheinlich der zweitschönste. Sie erinnerte sich noch gut daran, dass Vater vor zwei Jahren, nachdem er sich weder an ihrem Geburtstag noch an Heiligabend gemeldet hatte, am zweiten Weihnachtsfeiertag in einem Taxi vorgefahren war, beladen mit Geschenken für Maya und ihre Mutter. Jener Vormittag war von Fröhlichkeit und vielen Überraschungen geprägt gewesen, aber dieser Samstag versprach ein dauerhafteres Glück. Statt des üblichen Ausflugs zu dem leer stehenden Lagerhaus in der Nähe von Canary Wharf, wo Vater immer mit ihr Kickboxen und den Umgang mit Waffen trainierte, hatten sie den ganzen Tag im Londoner Zoo verbracht, und über jedes der Tiere hatte er ihr Geschichten erzählt. Vater war schon überall auf der Welt gewesen und konnte Paraguay
oder Ägypten beschreiben, als wäre er ein einheimischer Touristenführer.
    Sie hatten die Blicke der anderen Leute auf sich gezogen, während sie von Käfig zu Käfig geschlendert waren. Die meisten Harlequins bemühten sich, nicht aufzufallen, doch ihr Vater stach zwischen normalen Menschen zwangsläufig hervor. Er war ein Deutscher mit markanter Nase, schulterlangem Haar und dunkelblauen Augen. Thorn trug dunkle Kleidung und ein stählernes Kara -Armband, das aussah wie eine zerbrochene Fessel.
    Maya hatte in der Abstellkammer ihrer Wohnung in East London ein ramponiertes Buch über Kunstgeschichte entdeckt. Auf einer der vorderen Seiten des Buches war ein Bild von Albrecht Dürer abgedruckt, das Ritter, Tod und Teufel hieß. Sie schaute sich das Bild oft an, obwohl es sie merkwürdig berührte. Der Ritter in seiner Rüstung glich ihrem Vater: Mutig und gelassen ritt er durch die Berge, neben ihm der Tod mit einem Stundenglas in der Hand und hinter ihm der Teufel, der so tat, als wäre er ein Knappe. Auch Thorn hatte ein Schwert bei sich, aber seines verbarg sich in einer Metallröhre mit ledernem Schultergurt.
    Einerseits war sie stolz auf Thorn, aber andererseits war sie seinetwegen auch verlegen und unsicher. Manchmal wünschte sie, sie wäre ein gewöhnliches Mädchen mit einem dicklichen Büroangestellten als Vater – einem zufriedenen Mann, der ihr Eiswaffeln kaufte und blöde Witze erzählte. Das Leben ringsum mit seiner grellbunten Mode, der Popmusik und den Fernsehshows war eine ständige Versuchung. Sie wollte sich in dieses warme Gewässer fallen und von seiner Strömung davontragen lassen. Es war anstrengend, die Tochter von Thorn zu sein, die ständig der Beobachtung durch das System auswich, immer nach Feinden Ausschau hielt und sich vor Angriffen in Acht nehmen musste.
    Maya war zwölf und noch nicht kräftig genug, um das
Schwert eines Harlequins zu benutzen. Als Ersatz dafür hatte Vater ihr vor dem Verlassen der Wohnung einen Spazierstock aus der Abstellkammer gegeben. Maya hatte Thorns helle Haut und seine ausgeprägten Gesichtszüge, aber das kräftige, schwarze Haar ihrer Mutter, einer Sikh, geerbt. Ihre Augenfarbe war ein so blasses Blau, dass die Iris, aus einem bestimmten Winkel betrachtet, durchsichtig wirkte. Sie fand es furchtbar, wenn irgendwelche Frauen ihrer Mutter gegenüber nett gemeinte Komplimente über Mayas Aussehen machten. Glücklicherweise würde sie in ein paar Jahren alt genug sein, um sich so zu tarnen, dass sie möglichst durchschnittlich aussah.
    Maja und Thorn verließen den Zoo und spazierten durch den Regent’s Park. Es war Ende April, junge Männer bolzten auf dem matschigen Rasen, und Paare schoben Kinderwagen, in denen dick eingewickelte Babys lagen. Die ganze Stadt schien unterwegs zu sein, um nach drei Regentagen die Sonne zu genießen. Maya und ihr Vater fuhren mit einer U-Bahn der Piccadilly Line zur
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