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Traveler - Roman

Traveler - Roman

Titel: Traveler - Roman
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag <München>
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gestellt gewesen war. Sie war damals siebzehn gewesen. Ihr Vater hatte sie nach Brüssel geholt, um einen Zen-Mönch zu beschützen, der zu Besuch in Europa weilte. Der Mönch war ein Wegweiser, einer jener Lehrer, die zukünftigen Travelern beibringen, in eine andere Sphäre überzuwechseln. Die Harlequins waren zwar nicht verpflichtet, Wegweiser zu beschützen, aber sie halfen ihnen, wenn irgend möglich. Der Mönch war ein berühmter Lehrer – und er stand auf der Todesliste der Tabula.
    An jenem Abend in Brüssel hielten sich Mayas Vater und sein französischer Freund Linden oben im Hotel nahe der Suite des Mönchs auf. Maya hatte den Auftrag bekommen, im Keller die Tür des Warenaufzugs zu bewachen. Als zwei Söldner der Tabula auftauchten, war niemand da, um ihr zu helfen. Einen der Männer schoss sie mit einer MP in den Hals, den anderen erschlug sie mit ihrem Schwert. Ihre graue Zimmermädchenkluft, ihre Arme und Hände waren blutverschmiert. Als Linden zu ihr nach unten kam, weinte sie hysterisch.
    Zwei Jahre später starb der Mönch bei einem Autounfall. All das Blut war umsonst geflossen, all der Schmerz umsonst erlitten.
    Beruhige dich, ermahnte sie sich. Such dir ein persönliches Mantra. Unsere Traveler, die da sind im Himmel. Verflucht seien sie allesamt.
     
    Gegen sechs Uhr hörte es zu regnen auf, und Maya beschloss, zu Fuß zu Thorns Wohnung zu gehen. Vom Hotel aus lief sie die Mostecká hinunter zur Karlsbrücke. Die breite gotische Steinbrücke war geschmückt mit einer langen Reihe bunt beleuchteter Statuen. Ein Rucksacktourist spielte Gitarre, seinen umgedrehten Hut vor sich auf dem Boden, und ein Straßenmaler
zeichnete mit Holzkohle das Porträt einer älteren Touristin. Auf halbem Weg zum anderen Ufer kam sie an der Statue eines tschechischen Märtyrers vorbei, und sie erinnerte sich, gehört zu haben, dass die Statue Glück zu bringen vermochte. Glück war etwas, das es gar nicht gab, aber Maya berührte trotzdem die bronzene Plakette unterhalb der Statue und flüsterte: »Mach, dass ein Mann mich liebt und ich ihn auch liebe.«
    Beschämt angesichts dieses Anfalls von Sentimentalität lief sie mit eiligen Schritten zum Ende der Brücke und in die Altstadt hinein. Dort drängten sich Läden neben Kirchen und Kellerbars wie Fahrgäste in einem überfüllten Zug. Vor den Kneipen standen Grüppchen von Tschechen und Rucksacktouristen und kifften gelangweilt.
    Thorn wohnte in der Konviktská, einem Straßenzug nördlich des ehemaligen Geheimdienstgefängnisses Bartolomějska. Im Kalten Krieg hatte der Geheimdienst ein Nonnenkloster beschlagnahmt und darin Gefängniszellen und Folterkammern eingerichtet. Inzwischen hatten die Barmherzigen Schwestern ihr Kloster zurückerhalten, und die Polizei war in andere Gebäude in der Nähe umgezogen. Während Maya durch das Viertel lief, begriff sie, wieso Thorn hier lebte. Prag besaß noch immer ein mittelalterliches Flair, und die meisten Harlequins verabscheuten alles, was neu wirkte. Die Stadt bot eine akzeptable medizinische Versorgung, gute Verkehrsanbindungen und Internetverbindungen. Ein dritter Aspekt war allerdings noch wichtiger: Die moralischen Grundsätze der meisten tschechischen Polizisten stammten noch aus den Zeiten des Kommunismus. Wenn Thorn die richtigen Leute schmierte, konnte er sich falsche Ausweispapiere und den Zugang zu Polizeiakten verschaffen.
     
    Maya war einmal in Barcelona einem Zigeuner begegnet, der ihr erklärt hatte, wieso er das Recht habe, Taschendiebstähle
zu begehen und in Hotelzimmer von Touristen einzubrechen. Als die Römer Jesus kreuzigten, wollten sie einen goldenen Nagel ins Herz des Heilands rammen. Aber ein Zigeuner – offenbar gab es im antiken Jerusalem Zigeuner – entwendete den Nagel, und deshalb gestand Gott seinem Stamm das Recht zu, bis in alle Ewigkeit zu stehlen. Harlequins waren keine Zigeuner, aber Maya fand, dass sie einer ziemlich ähnlichen Denkart anhingen. Ihr Vater und seine Freunde hatten ein stark ausgeprägtes Ehrgefühl sowie eine ganz eigene Vorstellung von Moral. Sie waren diszipliniert und einander treu ergeben, brachten aber jeglichen, von Bürgern gemachten Gesetzen nur Geringschätzung entgegen. Harlequins glaubten, aufgrund ihres Gelöbnisses, die Traveler zu schützen, das Recht zum Morden zu haben.
     
    Sie spazierte an der Heiligkreuzkapelle vorbei und betrachtete dann, quer über die Straße, das Haus Konviktská Nummer 18. Es hatte eine rote Tür, flankiert von einem
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