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Traveler - Roman

Traveler - Roman

Titel: Traveler - Roman
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag <München>
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führen.«
    Maya beschloss, sich in Judith Strand zu verwandeln, eine junge Frau, die an der University of Salford in Manchester ein paar Semester Produktdesign studiert hatte. Sie zog nach London, begann als Aushilfe in einer Designfirma zu arbeiten, und nach einer Weile wurde ihr dort eine feste Stelle angeboten. Die drei Jahre in der Großstadt waren von einer Serie privater Herausforderungen und kleiner Triumphe geprägt gewesen. Maya erinnerte sich noch gut, wie es war, als sie das erste Mal ihre Wohnung unbewaffnet verließ. Sie war den Angriffen der Tabula schutzlos ausgeliefert und fühlte sich schwach und wie auf dem Präsentierteller. Alle Menschen auf der Straße beobachteten sie; jeder einzelne Passant war ein potenzieller Auftragsmörder. Sie rechnete damit, von einer Kugel oder Klinge niedergestreckt zu werden, aber nichts passierte.
    Nach und nach hielt sie sich länger außerhalb ihrer Wohnung auf und testete ihre neue Lebenseinstellung. Maya blickte nicht länger in jedes Schaufenster, um zu sehen, ob ihr jemand folgte. Wenn sie mit ihren neu gewonnenen Freunden in ein Restaurant ging, hatte sie keine versteckte Waffe griffbereit in ihrer Nähe und setzte sich nicht mit dem Rücken zur Wand.
    Im April verstieß sie gegen den Grundsatz der Harlequins, niemals einen Psychotherapeuten aufzusuchen. Fünf teure Sitzungen lang saß sie in einem Zimmer voller Bücherregale in Bloomsbury. Sie wollte über ihre Kindheit reden und über den ersten Vertrauensbruch im U-Bahnhof Arsenal, aber sie schaffte es einfach nicht. Dr. Bennett war ein gepflegter kleiner Mann, der sich hervorragend mit Wein und altem Porzellan auskannte. Maya wusste noch genau, wie verwirrt er gewesen war, als sie ihn einen Bürger genannt hatte.
    »Selbstverständlich bin ich ein Bürger dieses Landes«, sagte er. »Ich bin in England geboren und aufgewachsen.«

    »Das ist bloß so eine Bezeichnung, die mein Vater benutzt. Neunundneunzig Prozent der Bevölkerung sind entweder Bürger oder Drohnen.«
    Dr. Bennett nahm seine Goldrandbrille ab und putzte sie mit einem grünen Flanelltuch. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir das zu erklären?«
    »Bürger sind Menschen, die zu verstehen glauben, was in der Welt vor sich geht.«
    »Es ist keineswegs so, dass ich alles verstehe, Judith. Das habe ich auch nie behauptet. Aber ich bin über das Zeitgeschehen gut informiert. Ich sehe mir jeden Morgen die Nachrichten an, während ich auf meinem Laufband jogge.«
    Maya zögerte, beschloss dann aber, ihm die Wahrheit zu sagen: »Das meiste von dem, was Sie für Tatsachen halten, ist frei erfunden. Die wahren Kämpfe der Menschheitsgeschichte finden unter der Oberfläche statt.«
    Dr. Bennett bedachte sie mit einem herablassenden Lächeln. »Erzählen Sie mir von den Drohnen.«
    »Drohnen, das sind die Menschen, die nur damit beschäftigt sind zu überleben und deshalb nichts wahrnehmen, was sich jenseits ihres täglichen Lebens ereignet.«
    »Sie meinen arme Menschen?«
    »Sie können arm sein oder ihr Dasein in einem Drittweltland fristen, aber sie wären dennoch in der Lage, sich zu ändern. Vater sagte immer: ›Bürger ignorieren die Wahrheit. Drohnen sind einfach zu erschöpft.‹«
    Dr. Bennett setzte seine Brille wieder auf und griff nach seinem Notizblock. »Vielleicht wäre jetzt ein geeigneter Zeitpunkt, über Ihre Eltern zu sprechen.«
    Dieser Vorschlag bedeutete das Ende der Therapie. Was hätte sie über Thorn erzählen können? Ihr Vater war ein Harlequin, der fünf Mordanschläge der Tabula überlebt hatte. Er war stolz, grausam und sehr mutig. Mayas Mutter entstammte einer Familie von Sikhs, die seit etlichen Generationen Verbündete
der Harlequins war. Zu Ehren ihrer Mutter trug sie am rechten Handgelenk ein Kara -Armband.
    Im Spätsommer feierte sie ihren sechsundzwanzigsten Geburtstag, und eine ihrer Kolleginnen aus der Designfirma machte mit ihr einen Einkaufsbummel durch die Boutiquen in West London. Maya erstand ein paar modische, leuchtend bunte Kleidungsstücke. Sie gewöhnte sich an, abends fernzusehen, und bemühte sich, den Nachrichtensprechern zu glauben. Manchmal war sie glücklich – beinahe glücklich – und freute sich über die ständigen Ablenkungen durch das System. Regelmäßig wurde eine neue Sorge erfunden, vor der man Angst haben konnte, oder ein neues Produkt, das man unbedingt haben wollte.
    Maya trug zwar keine Waffen mehr bei sich, doch sie besuchte gelegentlich ein Sportstudio, um mit einem
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