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Jack Morrow und das Grab der Zeit: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)

Jack Morrow und das Grab der Zeit: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)

Titel: Jack Morrow und das Grab der Zeit: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
Autoren: Niel Bushnell
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Hölle auf Erden. Jacks Herz schlug so heftig, dass er Angst hatte, gleich tot umzufallen.
    »Das kann doch unmöglich wirklich passieren«, flüsterte er. Nur waren seine Augen anderer Meinung als sein gesunder Menschenverstand. Dieser quälende, grausige Anblick wirkte auch nicht weniger echt und greifbar wie alles andere, was Jack je gesehen hatte. Er erinnerte sich noch gut genug an den Geschichtsunterricht: Das musste der »Blitz« sein, die Bombardierung Londons durch die deutsche Luftwaffe während des Zweiten Weltkriegs.
    Er bezwang seine Furcht und trat aus dem Friedhof in eine Welt, die vertraut und fremd zugleich war. Der Stadtteil Wapping lag weiter südlich, und irgendwo in seinen engen Gassen gab es eine Kneipe namens Hanging Tavern . Aber das hier war ein jüngeres London, und alle Landmarken, die Jack kannte, fehlten entweder oder waren im Dunklen nicht zu sehen. In seiner Zeit, 2013, hatte es in dieser Gegend jede Menge Neubauten gegeben, teure Apartmenthäuser und Bürotürme mit Glasfassaden. Jetzt sah alles völlig anders aus. Die schmalen Straßen waren von Webereien und Fabriken gesäumt, die zu einem großen Teil brannten und dichten Rauch in den Nachthimmel spien. Auf einmal begriff Jack, dass sein Zuhause, eine ungeliebte Mietwohnung im East End, hier nicht existierte, noch mindestens fünfzig lang Jahre nicht. Bei dem Gedanken überlief es ihn eiskalt. Sein Vater fiel ihm ein, fern in der Zukunft. Was glaubte Dad wohl, was aus ihm geworden war?
    Er wandte sich in Richtung Fluss und begann zu laufen. Es waren kaum Menschen unterwegs. Nur Betrunkene oder Dummköpfe hielten sich noch im Freien auf, graue Gestalten in derber Kleidung, deren Gesichter unter der schrecklichen Last des Krieges gealtert waren.
    Schließlich kam die Themse in Sicht, und eine frische Brise trug saubere Luft heran, die Jack dringend brauchte. Fischer versuchten ein Feuer in den Griff zu bekommen, das ihr Boot erfasst hatte, und er sah einen Moment lang zu, wie das alte Gefährt auf dem Wasser schaukelte und die hungrigen Flammen sich in das Holz fraßen. Heiße Ascheflocken wirbelten durch den Hafen und versengten Jacks Kleidung und seine Haut.
    Er zog sich zurück, ohne genau zu wissen, wohin er ging. Vor ihm lag eine Reihe Wirtshäuser und Kneipen mit kleinen Läden dazwischen, die Schiffsausrüstung, Schmuck und getrocknete Lebensmittel verkauften. Alle Geschäfte waren geschlossen und unbeleuchtet, aber das Spiegelbild der bren nenden Stadt in ihren Schaufensterscheiben verstörte ihn und er ging weiter. Hier waren mehr Autos zu sehen, aber die Marken waren ihm fremd und schienen wie aus einem alten Film entsprungen. Er kam an einem gedrungenen grauen Lieferwagen vorbei, an dessen Seite das Logo einer Firma prangte, die Frühstücksflocken herstellte. Die Hecktür stand offen, und die Ladung war offensichtlich geplündert worden. Eine einsame leere Cornflakesschachtel lag dort noch. Fasziniert von diesem winzigen Detail hob Jack sie auf. Sein Vater aß genau diese Sorte jeden Morgen, immer im Stehen, während er aus dem Fenster auf die Londoner Skyline blickte.
    Eine ferne Explosion ließ den Boden beben. Jack stellte die aufgerissene Packung hin und ging weiter, folgte der Straße den Fluss entlang Richtung Westen, an Fischern und Schiffern vorbei, die hilflos auf das Inferno starrten. Er ging in eine Querstraße, deren Gebäude wundersamerweise von den Bomben verschont geblieben waren. Er begegnete ein paar Nachschwärmern, die anscheinend von Kneipe zu Kneipe wankten und sich den Krieg schöntranken. Sie zeigten auf ihn und lachten. Er sah hinunter auf seine Kleidung: eine abgewetzte und zu kurze Jeans, dazu ein hellblaues T-Shirt, das den kalten Wind, der von der weiten Biegung des Flusses her wehte, kaum abhalten konnte. Die Jeans war zerrissen und verdreckt von seiner Flucht vor den Müllmännern, und auf seinem T-Shirt prangte ein Blutfleck.
    Dann fiel sein Blick auf seine Turnschuhe, und er begriff, was die Leute an ihm so lustig fanden. Wie das Handy waren auch die Schuhe ein Geschenk seines Vaters gewesen, eine teure Wiedergutmachung dafür, dass er so oft nicht da war. Jack hatte sie sich voller Freude selbst ausgesucht: Sie waren knöchelhoch, mit dicker Gummisohle und sehr, sehr weiß.
    Die Gasse schlängelte sich einen Hang hinauf, und sämt liche Läden, Häuser und Kneipen kamen Jack unbekannt vor. Oben gelangte er an eine Kreuzung, die wie ausgestorben dalag. Er wusste nicht weiter und blieb
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