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Jack Morrow und das Grab der Zeit: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)

Jack Morrow und das Grab der Zeit: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)

Titel: Jack Morrow und das Grab der Zeit: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
Autoren: Niel Bushnell
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worden. Eine Frau trauerte um ihn. Nein, zwei Frauen. Die eine jung, die andere alt. Sie hatten genau an dieser Stelle gestanden, in Trauer ver eint. Seine Mutter und seine Ehefrau. Nein, nicht einmal seine Ehefrau, seine Verlobte, deren Hoffnungen zerstört worden waren. Eine gewaltige Woge der Trauer breitete sich in alle Richtungen aus und drohte Jack zu überschwemmen.
    Fremde Erinnerungen drangen in sein Gedächtnis ein und versuchten sich dort einzubetten, als wären es seine eigenen. Ihm wurde übel. Er konnte nicht mehr klar denken, und die Schmerzen ließen ihn aufschreien, aber er bekam keinen Laut heraus. Seine erste Reise entlang eines Tränentunnels war zum Glück nur kurz gewesen, aber diese hier wollte schier nicht enden, und mit jedem Jahr, das er in der Zeit zurückreiste, ging es ihm dreckiger.
    Die Klänge und Bilder ließen nach, und Jack spürte einen Verlust, wie er ihn so schlimm noch nie erlebt hatte. Es ging über tatsächliche Tränen, über körperliche Schmerzen hinaus.
    Dunkle Rottöne brannten sich in seinen Verstand. Und dann spürte er gar nichts mehr um sich herum, als wäre er in eine riesige Kugel gestürzt, deren Wände zu weit weg waren, um sie wahrzunehmen. Die Farben verblassten zu Blautönen und anderen kalten Farben. Eine gewaltige Schockwelle erfasste ihn und der Tränentunnel schien in sich zusammenzufallen. Wind peitschte ihn, alles wurde schwarz und seine Ohren knackten, als würde er nach einer langen Tauch strecke im Sportbecken wieder an die Oberfläche zurückschwimmen.
    Dann verschluckte ihn ein leeres Nichts.
    Jack öffnete die Augen. Sie brannten und wollten sich nicht scharfstellen. Es war Nacht, und er war durchnässt, unterkühlt und hungrig. Er befand sich genau an derselben Stelle, wo er vorher auch gewesen war – saß auf demselben Friedhof, wo sein Vater ihm erzählt hatte, dass er fortmusste, demselben Friedhof, wo ein Fremder behauptet hatte, sein Großvater zu sein, demselben Friedhof, wo Wesen aus Staub und Müll versucht hatten, ihn zu töten. Der letzte Gedanke erfüllte ihn mit Schrecken, und er sah sich um, voller Angst vor dem, was ihn erwartete. Zu seiner Erleichterung war er allein.
    Der Vollmond tauchte die Umgebung in blaues Zwie licht, das auch kleine Unterschiede hervorhob. Der Friedhof war leerer, jünger. Die Luft war schlecht, voller Abgase und Ruß. Und der alte Grabstein – das Grab des Schneiders – war verschwunden.
    Jack richtete seine Aufmerksamkeit auf die Umgebung des Friedhofs. Die Umrisse der Häuser und Gebäude kamen ihm mickrig und verformt vor. In den Straßen war es dunkler; vereinzelte schwache Gaslaternen schnitten kleine sichtbare Flecken aus der Schwärze. Aus nahezu sämtlichen Schornsteinen stiegen Rauchsäulen empor und löschten die Sterne aus. In der Ferne riefen Stimmen, klapperten Pferdehufe auf Kopfsteinpflaster, bellten Hunde. Das Dröhnen des Verkehrs, die Kakofonie der Motoren, der wohlvertraute Großstadt lärm, war auf ein einzelnes Auto reduziert, das gerade irgend wohin fuhr.
    Das also war 1940. Jack konnte den Sinneseindrücken, die auf ihn einstürzten, kaum trauen. Das Ganze war schließlich absurd. Er konnte doch nicht durch die Zeit gereist sein. Er musste träumen, oder er lag im Koma. Irgendwie ließ sich das leichter akzeptieren.
    Er holte tief Luft, sie war kratzig und roch nach Holzfeuer. Nach der Begegnung mit David Vale und seiner Reise hierher spürte Jack eine unwirkliche Ruhe, wie nach einem Unwetter. Er lachte leise; über das Wunderbare dieses Augenblicks waren seine Ängste vergessen.
    Im Norden erhellte ein greller Blitz den Himmel und zerstörte diesen Moment des Friedens. Sekunden später brach deutlich näher ein zweiter Blitz los, und ein gigantischer Feuer ball stieg fauchend empor. Irgendwo in der Nähe kreischte eine Sirene los wie ein sterbendes Tier; ein derartig endloses Klagen hatte Jack noch nie gehört.
    Er sah sich am Himmel um, der voller Flugzeuge war, deren fernes Dröhnen man kaum hören konnte. Um sie herum zerrissen Blitze und Explosionen den Himmel. Eine der Maschinen ging in Flammen auf, ein Flügel riss ab, und der Rumpf trudelte außer Kontrolle erdwärts. Das Flugzeug verschwand zwischen den Umrissen der dunklen Gebäude, eine gewaltige Explosion brachte die Luft zum Bersten.
    Jack suchte Schutz unter einem Baum, während ein alter Feuerwehrwagen mit läutenden Glocken am Friedhof vorbei raste. Überall in der Umgebung loderten Flammen empor; es war die reinste
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