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Irrsinn

Irrsinn

Titel: Irrsinn
Autoren: Dean R. Koontz
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Kugelschreiber steckte daran. Er legte beides auf den Nachttisch.
    Der kleine Raum war einfach möbliert: ein Krankenbett, ein Nachttisch, ein Stuhl. Vor langem schon hatte Billy zusätzlich einen Barhocker mitgebracht, damit er hoch genug sitzen konnte, um über Barbara zu wachen.
    Das Pflegeheim bot eine gute Versorgung, stellte jedoch eine äußerst nüchterne Umgebung dar. Die Hälfte der Patienten befand sich im Zustand der Genesung, die andere Hälfte wurde einfach nur eingelagert.
    Auf dem Hocker neben dem Bett sitzend, berichtete Billy Barbara von seinem Tag. Er begann mit einer Beschreibung des Sonnenaufgangs und endete mit Lannys Schießstand voller Comicfiguren.
    Obgleich Barbara nie auf irgendetwas reagierte, das er sagte, vermutete Billy, dass sie ihn hinter ihrem tiefen Bollwerk hörte. Er musste einfach glauben, dass seine Gegenwart, seine Stimme, seine Zuneigung sie trösteten.
    Als er nichts mehr zu sagen hatte, betrachtete er sie nur noch. Er sah sie nicht immer so, wie sie jetzt war. Manchmal sah er sie auch so, wie sie einmal gewesen war – lebhaft, munter – und wie sie noch hätte sein können, wäre das Schicksal gütiger zu ihr gewesen.
    Nach einer Weile zog er die zusammengefaltete Botschaft aus der Brusttasche und las sie noch einmal vor.
    Er war kaum damit fertig, als Barbara Worte murmelte, deren Bedeutung fast schneller dahinschmolz, als das Ohr sie hören konnte: »Ich will wissen, was es sagt …«
    Elektrisiert glitt Billy von seinem Hocker und beugte sich über das Seitengitter, um sie genauer anzuschauen.
    Noch nie hatte irgendetwas, das sie in ihrem Koma gemurmelt hatte, sich scheinbar auf etwas bezogen, das er bei seinen Besuchen gesagt oder getan hatte. »Barbara?«
    Sie blieb still liegen, mit geschlossenen Augen und leicht offenen Lippen, scheinbar nicht lebendiger als ein Objekt der Trauer auf dem Katafalk.
    »Kannst du mich hören?«
    Mit bebenden Fingerspitzen berührte er ihr Gesicht. Sie re a gierte nicht.
    Obwohl er ihr den Inhalt der seltsamen Botschaft bereits mitgeteilt hatte, las er den Zettel noch einmal vor, falls Barbaras Worte sich tatsächlich darauf bezogen hatten.
    Als er fertig war, reagierte sie nicht. Er nannte sie beim N a men, doch sie zeigte keine Regung.
    Billy setzte sich wieder auf den Hocker und nahm das kleine Notizbuch vom Nachttisch. Mit dem Kugelschreiber notierte er die sechs Wörter und das Datum, an dem Barbara sie gespr o chen hatte.
    Für jedes Jahr ihres unnatürlichen Schlafs besaß er ein solches Notizbuch. Alle enthielten nicht mehr als hundert acht mal zwölf Zentimeter große Seiten, doch keines war voll, da sie nicht bei jedem Besuch etwas sagte. Im Gegenteil, meist war das mitnichten der Fall.
    Ich will wissen, was es sagt.
    Nachdem er diese ungewöhnlich vollständige Bemerkung datiert hatte, blätterte er in dem Buch und studierte einige der anderen Bruchstücke, ohne auf das jeweilige Datum zu achten.
    Lämmer können nicht verzeihen rotgesichtige kleine Jungen meine kindliche Zunge die Autorität seines Grabsteins Papa, Pollen, Pony, Pflaumen, Prisma Zeit der Dunkelheit es schwillt voran große Wogen alles flitzt davon dreiundzwanzig, dreiun d zwanzig …
    In keinem dieser Worte fand Billy irgendeinen Zusamme n hang oder einen Hinweis, was sie bedeuten mochten.
    Im Lauf der Wochen und Monate spielte Barbara von Zeit zu Zeit ein Lächeln um die Lippen. Zweimal hatte Billy sogar erlebt, wie sie leise gelacht hatte.
    An anderen Tagen verstörten ihre geflüsterten Worte ihn jedoch. Manchmal erschreckten sie ihn sogar. zerrissen, verwundet, keuchend, blutend Blut und Feuer Beile, Messer, Bajonette Rot in ihren Augen, ihren wilden Augen Selbst solche bestürzenden Bemerkungen äußerte Barbara nicht in betrübtem Tonfall. Sie kamen mit demselben ausdruckslosen Murmeln von ihren Lippen wie alles andere.
    Dennoch war Billy beunruhigt. Er machte sich Sorgen, dass Barbara sich am Grunde ihres Komas an einem dunklen, furchterregenden Ort befand, wo sie sich gefangen und bedroht fühlte – und allein.
    Nun legte sich ihre Stirn in Falten, und sie sagte: »Das Meer …«
    Während Billy das niederschrieb, fuhr sie fort: »Was es immer …«
    Die Stille im Raum wurde tiefer. Es war, als verdichtete die Atmosphäre sich so sehr, dass alle Strömungen aus der Luft gepresst wurden, damit Barbaras leise Stimme bis zu Billy vordrang.
    Ihre rechte Hand bewegte sich zu ihren Lippen, wie um die Struktur der dort entstehenden Wörter zu betasten.
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