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Pandemonium

Pandemonium

Titel: Pandemonium
Autoren: Lauren Oliver
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jetzt
    A
lex und ich liegen nebeneinander auf einer Decke im Garten der Brooks Street 37. Die Bäume wirken höher und dunkler als sonst. Die Blätter sind beinahe schwarz und so eng miteinander verwoben, dass sie den Himmel verdecken.
    »Das ist heute wahrscheinlich nicht gerade der beste Tag für ein Picknick«, sagt Alex und in diesem Augenblick fällt mir auf, dass wir tatsächlich noch gar nichts von unserem mitgebrachten Proviant gegessen haben. Am Ende der Decke steht ein Korb voll mit halb verfaultem Obst, auf dem es von winzigen schwarzen Ameisen nur so wimmelt.
    »Warum nicht?«, frage ich. Wir liegen auf dem Rücken und sehen zu dem Netz aus Blättern über uns hinauf, das so dicht ist wie eine Mauer.
    »Weil es schneit.« Alex lacht. Und wieder fällt mir auf, dass er Recht hat. Es schneit. Dicke, aschefarbene Flocken wirbeln um uns herum. Außerdem ist es eiskalt. Mein Atem wölkt vor meinem Mund und ich drücke mich an Alex, um mich zu wärmen.
    »Leg deinen Arm um mich«, sage ich, aber er reagiert nicht. Ich versuche mich in den Zwischenraum zwischen seinem Arm und seiner Brust zu schieben, aber sein Körper ist starr und unnachgiebig. »Alex«, sage ich, »los, mir ist kalt.«
    »Mir ist kalt«, wiederholen seine Lippen fast unbeweglich. Sie sind blau und rissig. Er starrt, ohne zu blinzeln, in die Blätter.
    »Sieh mich an«, sage ich, aber er er wendet nicht den Kopf, blinzelt auch nicht, rührt sich überhaupt nicht. Ein hysterisches Gefühl breitet sich in mir aus, eine kreischende Stimme wiederholt immer wieder: Schlimm, schlimm, schlimm. Ich setze mich auf und lege die Hand auf Alex’ eiskalte Brust. »Alex.« Dann ein kurzer Schrei: »Alex!«
    »Lena Morgan Jones!«
    Ruckartig wache ich auf, im Hintergrund vielstimmiges gedämpftes Kichern.
    Mrs Fierstein, die Naturkundelehrerin für die zwölfte Klasse an der Quincy-Edwards-Mädchenschule in Brooklyn, Abschnitt 5, Bezirk 17, funkelt mich an. Das ist das dritte Mal diese Woche, dass ich in ihrem Unterricht einschlafe.
    »Nachdem dich die Schöpfung der natürlichen Ordnung so anstrengt«, sagt sie, »würde ich dir einen Ausflug ins Büro der Schulleiterin vorschlagen, damit du wach wirst.«
    »Nein!«, platze ich lauter als beabsichtigt hervor, was erneutes Gekicher der anderen Mädchen in meiner Klasse zur Folge hat. Ich bin erst seit den Winterferien an der Edwards-Schule – gerade mal zwei Monate – und bin schon als der absolute Freak verschrien. Die Leute meiden mich, als hätte ich eine Krankheit – als hätte ich die Krankheit.
    Wenn sie wüssten.
    »Dies ist deine letzte Verwarnung, Lena Jones«, sagt Mrs Fierstein. »Verstanden?«
    »Es wird nicht wieder vorkommen«, entgegne ich und gebe mir Mühe, gehorsam und zerknirscht auszusehen. Ich schiebe die Erinnerung an den Albtraum beiseite, schiebe die Gedanken an Alex beiseite, genau wie die an Hana und an meine alte Schule, schiebe, schiebe, schiebe, genau wie Raven es mir beigebracht hat. Mein altes Leben gibt es nicht mehr.
    Mrs Fierstein wirft mir einen letzten finsteren Blick zu – wahrscheinlich um mich einzuschüchtern – und wendet sich wieder der Tafel zu, wo sie mit ihrem Vortrag über die göttliche Energie der Elektronen fortfährt.
    Die alte Lena hätte große Angst vor einer Lehrerin wie Mrs Fierstein gehabt. Sie ist alt und streng und sieht aus wie eine Kreuzung aus einem Frosch und einem Pitbull. Mrs Fierstein ist einer dieser Menschen, die das Heilmittel überflüssig erscheinen lassen – unmöglich sich vorzustellen, dass sie jemals in der Lage wäre zu lieben, selbst ohne den Eingriff.
    Aber die alte Lena gibt es ebenfalls nicht mehr.
    Ich habe sie beerdigt.
    Ich habe sie auf der anderen Seite eines Zauns zurückgelassen, hinter einer Wand aus Rauch und Feuer.

damals
    A
m Anfang ist das Feuer.
    Feuer in meinen Beinen und meiner Lunge. Feuer, das jeden Nerv und jede Zelle meines Körpers verzehrt. So werde ich neu geboren, unter Schmerzen: Ich tauche aus der erdrückenden Hitze und der Dunkelheit auf. Ich kämpfe mich durch einen schwarzen, feuchten Raum aus seltsamen Geräuschen und Gerüchen.
    Ich renne, und als ich nicht mehr rennen kann, humpele ich, und als auch das nicht mehr geht, krieche ich weiter, Zentimeter um Zentimeter, kralle meine Fingernägel in den Boden und schiebe mich wie ein Wurm über die zugewucherte Erde dieser seltsamen, unbekannten Wildnis.
    Ich blute auch, als ich geboren werde.
    Ich weiß nicht genau, wie weit ich in die
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