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Pandemonium

Pandemonium

Titel: Pandemonium
Autoren: Lauren Oliver
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nachdem ich die Hälfte der Brühe geschafft habe. Sie nimmt mir die Schale ab und verschwindet.
    Ich will nichts lieber, als wieder zu schlafen. Wenn ich schlafe, kann ich mich wenigstens zu Alex zurückträumen, mich in eine andere Welt träumen. Hier, in dieser Welt, habe ich nichts: keine Familie, kein Zuhause, keinen Ort, wo ich hinkann. Alex ist weg. Und meine Identität ist inzwischen bestimmt ungültig gemacht worden.
    Ich kann noch nicht mal weinen. Mein Inneres ist zu Staub zerfallen. Immer und immer wieder muss ich an diesen letzten Moment denken, als ich mich umgedreht habe und ihn da hinter dieser Wand aus Rauch stehen sah. In Gedanken versuche ich die Hand auszustrecken, durch den Zaun und den Rauch hindurch; ich versuche nach seiner Hand zu greifen und ihn zu mir zu ziehen.
    Alex, komm zurück.
    Ich kann nichts weiter tun als versinken. Die Stunden umkreisen mich, schließen mich völlig ein wie ein Grab.
    Etwas später höre ich schlurfende Schritte, dann den Widerhall von Gelächter und Gesprächen. So habe ich wenigstens etwas, worauf ich mich konzentrieren kann. Ich versuche die Stimmen zu unterscheiden, zu raten, wie viele Sprecher es sind, aber ich kann nur ein paar tiefe Töne (Männer, Jungen) und ein hohes Gekicher, gelegentlich aufbrandendes Gelächter auseinanderhalten. Einmal höre ich Raven rufen: »Okay, okay«, aber meistens sind die Stimmen nur Geräusche, Töne wie ein weit entferntes Lied.
    Natürlich ist es logisch, dass in einem Haus in der Wildnis Mädchen und Jungen zusammenleben – darum geht es schließlich: um die Freiheit zu wählen, die Freiheit, zusammen zu sein, die Freiheit, sich anzusehen, zu berühren, zu lieben –, aber die Theorie ist etwas anderes als die Realität und ich kann eine gewisse Panik nicht unterdrücken.
    Alex ist der einzige Junge, den ich je näher gekannt oder mit dem ich mich je richtig unterhalten habe. Der Gedanke, dass direkt hinter der Steinmauer all diese männlichen Fremden sind, mit ihren Baritonstimmen und ihrem schnaubenden Gelächter, gefällt mir nicht. Bevor ich Alex kennengelernt habe, habe ich fast achtzehn Jahre lang in vollem Vertrauen auf das System gelebt und zu hundert Prozent geglaubt, dass Liebe eine Krankheit sei, dass wir uns davor schützen müssten, dass Mädchen und Jungen streng getrennt werden sollten, um Ansteckung zu vermeiden. Blicke, Berührungen, Umarmungen – all das barg ein hohes Risiko in sich. Und auch wenn mich der Kontakt zu Alex verändert hat, schüttelt man Angst nicht so ohne weiteres ab. Das geht einfach nicht.
    Ich schließe die Augen, atme tief durch und versuche einzuschlafen.
    »Okay, Blue. Raus hier. Schlafenszeit.«
    Ich schlage die Augen auf. Ein Mädchen, vermutlich sechs oder sieben Jahre alt, steht in der Tür und sieht mich an. Sie ist dünn und braun gebrannt, trägt dreckige Shorts aus Jeansstoff und einen Baumwollpulli, der ihr viel zu groß ist – so groß, dass er ihr von den Schultern rutscht und Schulterblätter so spitz wie Vogelflügel entblößt. Ihre Haare sind aschblond und reichen ihr fast bis zur Taille und sie ist barfuß. Raven versucht mit einem Teller in der Hand an ihr vorbeizukommen.
    »Ich bin nicht müde«, sagt das Mädchen, wobei sie mich die ganze Zeit über anstarrt. Sie springt von einem Fuß auf den anderen, kommt aber nicht weiter ins Zimmer. Ihre Augen sind von einem überraschenden Blau, eine Farbe wie der strahlende Himmel.
    »Keine Diskussionen«, sagt Raven und stößt Blue im Vorbeigehen spielerisch mit der Hüfte an. »Raus.«
    »Aber …«
    »Wie lautet Regel Nummer eins, Blue?« Ravens Stimme wird strenger.
    Blue hebt den Daumen an den Mund und knabbert an ihrem Daumennagel. »Auf Raven hören«, murmelt sie.
    »Immer auf Raven hören. Und Raven sagt: Schlafenszeit. Jetzt. Los.«
    Blue wirft mir einen letzten bedauernden Blick zu und huscht dann fort.
    Raven seufzt, verdreht die Augen und zieht den Stuhl neben das Bett. »Tut mir leid«, sagt sie. »Alle sind total scharf darauf, endlich die Neue zu Gesicht zu bekommen.«
    »Wer sind alle?«, frage ich. Meine Kehle ist ganz trocken. Es ist mir nicht gelungen, aufzustehen und zum Spülbecken zu gehen, außerdem ist ziemlich klar, dass die Rohre sowieso nicht mehr funktionieren. Es wird wohl keine Wasserversorgung in der Wildnis geben. All die Leitungen – Wasser, Strom – sind schon vor Jahren während der Offensive zerbombt worden. »Ich meine, wie viele seid ihr hier?«
    Raven zuckt mit den
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