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Pandemonium

Pandemonium

Titel: Pandemonium
Autoren: Lauren Oliver
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schwarzen Haare. »Raven. Rabe.« Sie lächelt. »Nicht gerade originell.«
    »Nein, ich meine … bist du hier geboren? In der Wildnis?«
    Das Lächeln verschwindet sofort wie eine Kerze, die ausgeblasen wird. Einen Moment lang sieht sie beinahe wütend aus. »Nein«, sagt sie kurz angebunden. »Ich bin mit fünfzehn hergekommen.«
    Ich weiß, ich sollte es nicht tun, aber ich muss einfach weiterfragen. »Allein?«
    »Ja.« Sie nimmt die andere Lampe, die immer noch ein blasses, weißes Licht verströmt, und geht auf die Tür zu.
    »Und wie hießest du vorher?«, frage ich und sie bleibt wie erstarrt stehen. »Bevor du in die Wildnis gekommen bist, meine ich.«
    Einen Augenblick rührt sie sich nicht. Dann dreht sie sich um. Sie hält die Lampe niedrig, so dass ihr Gesicht im Dunkeln liegt. Ihre Augen reflektieren das Licht und glitzern wie schwarze Steine im Mondschein.
    »Gewöhn dich schon mal an eins«, sagt sie ruhig und eindringlich. »Alles, was du mal warst, das Leben, das du geführt hast, die Leute, die du kanntest … Staub.« Sie schüttelt den Kopf und sagt mit etwas festerer Stimme: »Es gibt kein Vorher. Es gibt nur das Jetzt und was danach kommt.«
    Dann geht sie mit der Lampe auf den Flur und lässt mich in völliger Dunkelheit zurück. Mein Herz rast.
    Als ich am nächsten Morgen aufwache, bin ich am Verhungern. Der Teller mit dem zweiten Pfannkuchen ist noch da und ich stürze halb aus dem Bett, als ich danach greife, und lande mit den Knien auf dem kalten Steinfußboden. Ein Käfer erforscht die Oberfläche des Pfannkuchens – früher hätte mich das angeekelt, aber jetzt ist mein Hunger so groß, dass es mir nichts ausmacht. Ich schnipse das Insekt zur Seite, sehe zu, wie es in eine Ecke huscht, und verschlinge den Pfannkuchen gierig mit beiden Händen. Danach schlecke ich mir die Finger ab. Es stillt meinen Hunger nur minimal.
    Ich rappele mich langsam auf, wobei ich mich an der Pritsche abstützen muss. Es ist das erste Mal seit Tagen, dass ich aufstehe, das erste Mal, dass ich nicht nur zu einem Metalleimer in der Ecke krieche – den Raven dort hingestellt hat –, wenn ich auf die Toilette muss. Wie ich da mit gesenktem Kopf und zitternden Beinen im Dunkeln kauere, bin ich ein Tier, habe nichts Menschliches mehr.
    Ich bin so schwach, dass ich schon an der Tür eine Pause einlegen muss und mich an den Rahmen lehne. Ich fühle mich wie einer dieser Fischreiher – mit ihren langen Schnäbeln, dicken Leibern und dürren Beinchen –, die ich früher manchmal in der Bucht von Portland gesehen habe, völlig unproportioniert und aus dem Gleichgewicht geraten.
    Mein Zimmer führt auf einen langen dunklen Flur, gleichfalls fensterlos, gleichfalls aus Stein. Ich kann Leute reden und lachen hören, das Geräusch von Stühlen, die über den Boden ratschen, und Wasserrauschen: Küchengeräusche. Essensgeräusche. Der Flur ist schmal und ich fahre mit den Händen die Wände entlang, während ich mich vorwärtsbewege und langsam wieder ein Gespür für meine Beine und meinen Körper bekomme. Ein Durchgang ohne Tür links von mir führt in einen großen Raum, in dem an einer Seite medizinische und kosmetische Vorräte gestapelt sind: Gaze, Röhrchen mit Antibiotika, Hunderte Seifenschachteln, Verbandsmaterial. Auf der anderen Seite liegen vier schmale Matratzen auf dem Boden, darauf ein Haufen Kleider und Decken. Etwas weiter hinten sehe ich einen weiteren Raum, der offenbar ausschließlich zum Schlafen benutzt wird. Er ist fast vollständig mit Matratzen ausgelegt (von einer Wand zur anderen), so dass das Zimmer aussieht wie eine riesige Patchworkdecke.
    Ich bekomme Schuldgefühle. Offenbar habe ich das beste Bett und das beste Zimmer. Ich kann es immer noch nicht fassen, wie falsch ich all diese Jahre über lag, in denen ich den Gerüchten und Lügen Glauben geschenkt habe. Ich dachte, die Invaliden wären Ungeheuer; ich dachte, sie würden mich in Stücke reißen. Aber diese Menschen hier haben mir das Leben gerettet, mir den weichsten Schlafplatz überlassen und mich gesund gepflegt – und das alles ohne Gegenleistung.
    Die Bestien leben auf der anderen Seite des Zauns: Monster in Uniform. Sie belügen dich mit sanfter Stimme und lächeln, während sie dir die Kehle aufschlitzen.
    Der Flur biegt scharf links ab und die Stimmen schwellen an. Ich nehme jetzt den Geruch nach gebratenem Fleisch wahr und mein Magen knurrt laut. Ich komme an weiteren Zimmern vorbei, einige sind offenbar
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