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Pandemonium

Pandemonium

Titel: Pandemonium
Autoren: Lauren Oliver
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den Kopf ab und beiße mir auf die Lippe. Im Süden reißen die Wolken auf wie Wolle, die sich langsam entwirrt, und enthüllen Flecken blauen Himmels. »Die meiste Zeit meines Lebens über dachte ich, sie sei tot«, sage ich. Ich weiß nicht, warum ich ihr das erzähle.
    Da berührt sie mich doch, streicht mir über den Ellbogen. »Gestern ist jemand aus Portland angekommen – ein Flüchtling. Er ist nach dem Bombenanschlag aus den Grüften entkommen. Er hat nicht viel gesagt, noch nicht mal seinen Namen genannt. Ich weiß nicht, was sie ihm da oben angetan haben, aber …« Raven bricht ab. »Egal, vielleicht weiß er etwas über deine Mutter. Über ihre Zeit dort zumindest.«
    »Okay«, sage ich nur. Die Enttäuschung gibt mir ein schweres, benommenes Gefühl. Ich mache mir nicht die Mühe, Raven zu sagen, dass meine Mutter all die Jahre über in Einzelhaft gehalten wurde – und außerdem muss ich nicht wissen, wie sie damals war. Ich möchte wissen, wie sie jetzt ist.
    »Tut mir leid«, wiederholt Raven und ich kann erkennen, dass sie es ernst meint. »Aber wenigstens weißt du, dass sie frei ist, oder? Sie ist frei und in Sicherheit.« Raven lächelt kurz. »Wie du.«
    »Ja.« Sie hat natürlich Recht. Die Enttäuschung löst sich ein wenig. Frei und in Sicherheit – ich, Julian, Raven, Tack, meine Mutter. Es wird alles gut.
    »Ich geh mal gucken, ob Tack Hilfe braucht«, sagt Raven und wird wieder geschäftsmäßig. »Wir machen uns heute Abend auf den Weg.«
    Ich nicke. Trotz allem, was passiert ist, fühlt es sich gut an, mit Raven zu reden – und sie so zu sehen, in Reiselaune. So sollte es sein. Sie geht in die Lagerhalle und ich stehe einen Moment da, schließe die Augen und atme die kalte Luft ein. Sie riecht nach klammer Erde und nasser Rinde; ein feuchter, nasser Geruch nach Erneuerung. Alles wird gut. Und eines Tages werde ich meine Mutter wiederfinden.
    »Lena?« Hinter mir erklingt leise Julians Stimme. Ich drehe mich um. Er steht mit hängenden Armen neben dem Lieferwagen, als hätte er Angst, sich in dieser neuen Welt zu bewegen. »Alles in Ordnung mit dir?«
    Als ich ihn dort sehe – mit den Bäumen, die sich überall um uns herum dunkel ausbreiten, dahinter die Wolken, die sich zurückziehen –, wallt erneut Freude in mir auf. Plötzlich überbrücke ich, ohne nachzudenken, den Abstand zwischen uns und werfe mich in seine Arme, so heftig, dass er beinahe hintenüberkippt. »Ja«, sage ich. »Alles in Ordnung mit mir. Mit uns.« Ich lache. »Jetzt wird alles gut.«
    »Du hast mich gerettet«, flüstert er. Ich kann spüren, wie sich sein Mund an meiner Stirn bewegt. Die Berührung seiner Lippen lässt die Hitze durch meinen Körper tanzen. »Ich konnte es nicht glauben … ich hätte nie gedacht, dass du kommen würdest.«
    »Ich musste.« Ich löse mich von ihm, damit ich ihn ansehen kann, habe jedoch weiterhin die Arme um seine Taille geschlungen. Er legt die Hände auf meinen Rücken. Obwohl ich viel Zeit in der Wildnis verbracht habe, kommt es mir immer noch wie ein Wunder vor, so mit jemandem dazustehen. Niemand kann es uns verbieten. Niemand kann uns davon abhalten. Wir haben einander ausgewählt und der Rest der Welt kann sich zum Teufel scheren.
    Julian hebt die Hand und streicht mir eine Haarsträhne aus den Augen. »Und was geschieht jetzt?«, fragt er.
    »Alles, was wir wollen«, sage ich. Die Freude ist wie eine Welle – ich könnte auf ihr reiten, auf ihr bis in den Himmel steigen.
    »Alles?« Julians Lächeln breitet sich langsam von seinen Lippen bis zu seinen Augen aus.
    »Alles«, entgegne ich und Julian und ich bewegen uns gleichzeitig und finden unsere Lippen. Erst ist es unbeholfen: Seine Nase stößt gegen meine Lippen und dann stößt mein Kinn an seins. Aber er lächelt und wir lassen uns Zeit und entdecken den Rhythmus des anderen. Ich fahre mit den Lippen leicht über seine, erforsche sanft seine Zunge mit meiner. Er legt die Finger auf meine Haare. Ich atme den Geruch seiner Haut ein, frisch und gleichzeitig waldig, wie eine Mischung aus Seife und Nadelbäumen. Wir küssen uns langsam, sanft, weil wir jetzt alle Zeit der Welt haben – und den Raum, uns gegenseitig ungehindert kennenzulernen und uns so viel zu küssen, wie wir wollen. Mein Leben beginnt von neuem.
    Julian löst sich von mir, um mich anzusehen. Er fährt mit einem Finger über meinen Kiefer. »Ich glaube … ich glaube, du hast mich angesteckt«, sagt er leicht atemlos. »Mit der
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