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Pandemonium

Pandemonium

Titel: Pandemonium
Autoren: Lauren Oliver
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Vater hat er nicht einmal angesehen.
    In der Ecke des Zimmers wäscht der Arzt sich in einem großen Waschbecken die Hände. Das Trommeln des Wassers auf dem Metall ist extrem laut. Es ist zu leise hier. Sicherlich können hier so keine Hinrichtungen stattfinden, in dieser Helligkeit und dieser Stille. Der Arzt trocknet sich die Hände ab und schiebt die Finger in ein Paar OP-Handschuhe aus Latex.
    Der Priester tritt vor und fängt an vorzulesen. Seine Stimme ist ein leises Brummen, ein monotones Geleier, das von der Glasscheibe gedämpft wird.
    »Und so wuchs Isaak heran und war der Stolz seines betagten Vaters und eine Zeit lang das vollkommene Abbild von Abrahams Willen …«
    Er liest aus dem Buch Abraham. Natürlich. Darin befiehlt Gott Abraham, seinen einzigen Sohn zu töten, Isaak, nachdem dieser an der Deliria erkrankt ist. Und das tut Abraham. Er bringt seinen Sohn zu einem Berg und sticht ihm ein Messer durch die Brust. Ich frage mich, ob Mr Fineman darum gebeten hat, dass diese Stelle vorgelesen wird. Gehorsam gegenüber Gott, der Sicherheit, der natürlichen Ordnung – all dies lehrt uns das Buch Abraham.
    »Aber als Abraham sah, dass Isaak unrein geworden war, bat er in seinem Herzen um Führung …«
    Ich schlucke Julians Namen herunter. Sieh mich an.
    Der Arzt und die beiden Laborantinnen treten vor. Der Doktor hält eine Spritze in der Hand. Er probiert sie aus, schnippt mit einem Finger dagegen, während eine Laborantin Julians Ärmel bis zum Ellbogen hochkrempelt.
    In diesem Augenblick ist eine gewisse Unruhe dort unten wahrzunehmen. Sie breitet sich plötzlich in dem Zimmer aus. Julian blickt abrupt auf; der Arzt tritt beiseite und legt die Spritze zurück auf das Metalltablett, das eine der Laborantinnen bereithält. Thomas Fineman beugt sich gerade stirnrunzelnd vor und flüstert einem Leibwächter etwas zu, als eine weitere Laborantin ins Zimmer platzt. Ich kann nicht verstehen, was sie sagt, aber sie gestikuliert aufgeregt. Obwohl sie einen Mundschutz und einen ausgebeulten, zu großen Laborkittel trägt, erkenne ich, dass es eine Frau ist, weil sie einen langen Zopf hat.
    Irgendetwas stimmt nicht.
    Ich rücke näher an die Scheibe und versuche angestrengt zu verstehen, was sie sagt. Ein Gedanke flackert in meinem Hinterkopf auf, eine Idee, die ich nicht richtig zu fassen kriege. Die Laborantin hat etwas Vertrautes an sich, die Art, wie sie energisch gestikuliert, als sie den Arzt auf den Flur hinausweist. Er schüttelt den Kopf, zieht die Handschuhe aus und stopft sie in seine Tasche. Dann bellt er noch einen kurzen Befehl, bevor er das Behandlungszimmer verlässt. Eine der Laborantinnen läuft eilig hinter ihm her.
    Thomas Fineman geht auf die Tür zu, die ins Labor führt. Julian ist blass und sogar von hier aus kann ich erkennen, dass er schwitzt. Seine Stimme ist höher als sonst, angespannt.
    »Was ist los?« Die Worte dringen bis zu mir. »Kann mir bitte jemand sagen, was los ist?«
    Die Laborantin mit dem Zopf hat den Raum durchquert und öffnet Thomas Fineman die Tür. Als er mit rotem Gesicht ins Zimmer gestürmt kommt, greift sie in ihren Laborkittel.
    Und gerade als mich der Gedanke überkommt – der Zopf, die Hände. Raven! –, ertönt eine einzelne Explosion, ein Krachen, und Thomas Finemans Mund klappt auf, er taumelt rückwärts und sackt zusammen, während eine rote Blüte aus Blut vorne auf seinem Hemd wächst.
    Einen Moment scheint alles zu erstarren: Thomas Fineman, der auf dem Boden ausgestreckt liegt wie eine Lumpenpuppe. Julian mit weißem Gesicht auf dem Tisch. Der Journalist, der immer noch die Kamera vors Gesicht hält. Der Priester in der Ecke. Die Aufseher neben Julian, deren Waffen immer noch an ihren Gürteln stecken. Raven mit einer Pistole in der Hand.
    Blitz.
    Die Laborantin – die echte – kreischt.
    Und das Chaos bricht los.
    Weitere Schüsse prallen durch das Zimmer. Die Aufseher schreien: »Runter! Runter mit euch!«
    Knall . Eine Kugel bleibt in dem dicken Glas direkt über meinem Kopf stecken und drum herum breitet sich ein Netz aus Rissen aus. Mehr brauche ich nicht. Ich nehme einen Stuhl und beschreibe damit einen schwungvollen Bogen, in der Hoffnung, dass Julian den Kopf senkt.
    Es macht einen riesigen Lärm und den Bruchteil einer Sekunde lang ist erneut alles leise, abgesehen von der Glaskaskade, einem spitzen Regen. Dann springe ich über die Brüstung. Bei meiner Landung knirschen Glassplitter unter meinen Turnschuhen, ich verliere das
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