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Pandemonium

Pandemonium

Titel: Pandemonium
Autoren: Lauren Oliver
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einer der Pflanzen deponiert haben muss. Sie dreht sich um und wirft Julian und mir je einen Regenschirm zu. Anschließend zieht sie ein gelbes Regencape an und setzt die Kapuze auf, die sie fest zuzieht, damit die Verletzungen in ihrem Gesicht verdeckt werden.
    Dann treten wir auf die Straße hinaus und mischen uns unter die Leute, die auf dem Weg irgendwohin oder irgendwoher sind – eine gesichtslose Masse, eine Ansammlung sich bewegender Körper. Ich war noch nie dankbarer für die Größe Manhattans, für den Appetit der Stadt; wir werden von ihr verschluckt, wir werden niemand und jeder: eine Frau in einem gelben Umhang, ein klein gewachsenes Mädchen in einer roten Windjacke, ein Junge, dessen Gesicht von einem riesigen Regenschirm verdeckt wird.
    Wir biegen nach rechts auf die Eigth Avenue ab, dann nach links auf die 24. Straße und lassen die Menge hinter uns. Die Straßen sind leer, die Häuser blind mit zugezogenen Vorhängen, viele Fensterläden sind wegen des Regens geschlossen. Hinter papierdünnen Rollos schimmert Licht; nach innen gekehrte Zimmer, die der Straße den Rücken zuwenden. Wir gehen unentdeckt, unbeobachtet durch die graue und wässrige Welt. Im plätschernden Rinnstein wirbeln Müll, Papierfetzen und Zigarettenkippen. Ich habe Julians Hand losgelassen, aber er geht dicht neben mir und passt sich meiner Geschwindigkeit an, so dass wir uns fast berühren.
    Wir kommen an einen Parkplatz, der bis auf einen weißen Lieferwagen, den ich wiedererkenne, leer ist: der Lieferwagen, der als Wagen der Särge getarnt ist. Ich muss wieder an meine Mutter denken, aber dies ist nicht der richtige Zeitpunkt, um Raven zu fragen. Sie schließt die Hecktür auf und setzt die Kapuze ab.
    »Rein mit euch«, sagt sie.
    Julian zögert. Ich sehe, wie seine Augen über die Aufschrift huschen.
    »Das ist in Ordnung«, sage ich, klettere auf die Ladefläche und setze mich im Schneidersitz auf den dreckigen Boden. Er folgt mir. Raven nickt mir zu und schließt die Tür hinter uns. Ich höre, wie sie auf den Beifahrersitz klettert. Dann herrscht Stille abgesehen vom trommelnden Regen auf dem Blechdach. Sein Rhythmus schickt ein summendes Vibrieren durch meinen ganzen Körper. Es ist kalt.
    »Was …«, fragt Julian, aber ich gebe ihm ein Zeichen zu schweigen. Wir sind nicht außer Gefahr, noch nicht, und ich kann mich nicht entspannen, bis wir die Stadt verlassen haben. Ich wische mir mit der Windjacke das Blut von der Handfläche, ziehe den Saum darüber und presse die Hände aufeinander.
    Wir hören schwere Schritte, das Öffnen der Fahrertür und Tacks Stimme, ein Knurren: »Hast du sie?«
    Ravens Antwort: »Wäre ich sonst hier?«
    »Du blutest.«
    »Nur ein Kratzer.«
    »Na, dann los.«
    Der Motor springt an und plötzlich könnte ich aufschreien vor Freude. Raven und Tack sind wieder da – und giften sich an, wie sie es immer getan haben und immer tun werden. Sie sind mich holen gekommen und jetzt geht’s nach Norden. Wir stehen wieder auf derselben Seite. Wir werden in die Wildnis zurückkehren und ich werde Hunter wiedersehen und Sarah und Lu.
    Wir werden uns wieder zurückziehen wie Farn, der sich zum Schutz vor Trockenheit einrollt, und die Widerstandsbewegung sich selbst überlassen samt ihren Gewehren und Plänen, die Schmarotzer ihren Tunneln, die VDFA ihrem Heilmittel und die ganze Welt ihrem Wahnsinn und ihrer Blindheit. Sollen sie sich ins Verderben stürzen. Wir werden in Sicherheit sein, im Schutz der Bäume, geborgen wie Vögel im Nest.
    Und ich habe Julian. Ich habe ihn gefunden und er ist mir gefolgt. Im Halbdunkel strecke ich wortlos die Hände nach seinen aus. Wir verschränken unsere Finger, und obwohl er auch nichts sagt, spüre ich die Wärme und Energie, die zwischen uns hin- und herströmt, ein lautloser Dialog. Danke , sagt er, und ich: Ich bin so glücklich, so glücklich, ich musste dich in Sicherheit bringen.
    Ich hoffe, er versteht mich.
    Ich habe seit vierundzwanzig Stunden nicht geschlafen und trotz des Ruckelns des Lieferwagens und des donnernden Regengeräuschs schlafe ich irgendwann ein. Als Julian leise meinen Namen sagt, wache ich auf. Ich liege in seinem Schoß und atme den Geruch seiner Jeans ein. Verlegen setze ich mich schnell auf und reibe mir die Augen.
    »Wir haben angehalten«, sagt er, obwohl das offensichtlich ist. Der Regen hat sich zu einem sanften Knistern abgeschwächt. Die Fahrertür schlägt zu; Raven und Tack jubeln ausgelassen und laut. Wir müssen gut
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