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Pandemonium

Pandemonium

Titel: Pandemonium
Autoren: Lauren Oliver
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bleibe ich einen Moment stehen, um Atem zu schöpfen. Schweiß läuft mir den Rücken hinunter.
    Bitte , denke ich, an niemand Speziellen gerichtet. Ich bin auch nicht sicher, worum ich genau bitte. Um eine Gelegenheit, ihn zu retten. Oder wenigstens eine Gelegenheit, ihn zu sehen. Er soll wissen, dass ich seinetwegen hergekommen bin.
    Er soll wissen, dass ich irgendwann in den Tunneln angefangen habe, ihn zu lieben.
    Bitte .
    Als ich aus dem Treppenhaus auf den Flur trete, weiß ich, dass ich ihn gefunden habe: Fünfzehn Meter weiter unten steht Thomas Fineman neben mehreren Leibwächtern mit verschränkten Armen vor einem Untersuchungszimmer und spricht leise mit einem Arzt und drei Laborantinnen.
    Zwei, drei Sekunden. Ich habe nur ein paar Sekunden, bevor sie sich umdrehen werden, bevor sie mich entdecken und mich fragen werden, was ich hier zu suchen habe.
    Aus dieser Entfernung ist das Gespräch nicht zu verstehen – sie flüstern beinahe –, mir rutscht das Herz in die Hose und ich weiß, es ist zu spät; es ist schon passiert. Julian ist tot.
    Dann sieht der Arzt – Dr. Hillebrand? – auf die Uhr. Was er als Nächstes sagt, ist lauter – unglaublich laut in diesen engen Räumen und der Stille, so als würde er schreien.
    »Es ist so weit«, sagt er und jetzt sind meine drei Sekunden um. Ich stürze durch die erstbeste Tür. Es ist ein kleines Untersuchungszimmer, das zum Glück leer ist.
    Ich weiß nicht, was ich als Nächstes tun soll. In meiner Brust steigt Panik auf. Julian ist hier, so nah und doch absolut unerreichbar. Thomas Fineman hatte mindestens drei Leibwächter dabei und ich bezweifle nicht, dass drinnen noch mehr sind. An denen komme ich nie vorbei.
    Ich lehne mich an die Tür und zwinge mich zum Nachdenken. Ich bin hier in einem kleinen Vorzimmer gelandet. Von dem Zimmer geht eine weitere Tür ab, die sicherlich zu einem größeren Behandlungszimmer führt, wo komplexe Operationen und der heilende Eingriff gegen die Deliria stattfinden.
    Ein mit Papier bedeckter Tisch beherrscht den kleinen Raum. Darauf liegen gestapelt zusammengefaltete Kittel und ein Tablett mit OP-Besteck. Das Zimmer riecht nach Bleichmittel und sieht genauso aus wie das Zimmer, in dem ich mich vor fast einem Jahr für meine Evaluierung ausgezogen habe, an dem Tag, an dem alles begann, der mich nach vorn geschleudert und hierher katapultiert hat, in diesen neuen Körper, in dieses neue Leben. Mir wird kurz schwindelig und ich muss die Augen schließen. Als ich sie wieder öffne, habe ich das Gefühl, in zwei Spiegel zu blicken, die sich gegenüberstehen – als würde ich von der Vergangenheit in die Gegenwart gestoßen und wieder zurück. Erinnerungen sprießen, wallen auf – der Gang zu den Labors durch die stickige Luft Portlands, die kreisenden Möwen, das erste Mal, dass ich Alex gesehen habe, sein lachender Mund, als er mich von der Tribüne aus anblickte …
    Da geht es mir auf: die Tribüne. Alex hat mich von einer Tribüne aus beobachtet, die sich über die ganze Länge des Behandlungszimmers erstreckte. Wenn dieses Labor tatsächlich so aufgebaut ist wie das in Portland, komme ich vielleicht vom siebten Stock aus in Julians Zimmer.
    Ich schleiche vorsichtig wieder hinaus auf den Flur. Thomas Fineman ist weg und nur noch ein Leibwächter steht da. Einen Moment überlege ich, ob ich einen Angriff riskieren soll – das Messer wartet schwer, drängend in meiner Tasche –, aber dann dreht er sich zu mir um. Seine Augen sind farblos, hart, wie zwei Steine; sie lassen mich zurückfahren, als hätte er den gesamten Flur durchmessen und mich geschlagen.
    Bevor er etwas sagen kann oder Zeit hat, mein Gesicht wahrzunehmen, husche ich erneut ins Treppenhaus.
    Der siebte Stock ist dunkler und trüber als die anderen. Es ist vollkommen still: keine Gespräche, die hinter verschlossenen Türen summen, kein Piepen medizinischer Apparate, keine Laborantinnen, die in weißen Sneakers die Flure entlangquietschen. Alles ist ruhig, als würde die Luft hier oben nicht oft gestört. Eine Reihe Türen säumt den Flur zu meiner Rechten. Mein Herz macht einen Satz, als ich sehe, dass über der ersten TRIBÜNE A steht.
    Ich schleiche auf Zehenspitzen den Flur entlang. Ganz offensichtlich hält sich hier oben niemand auf, aber die Stille macht mich nervös. Die ganzen geschlossenen Türen, die Luft, die so schwer und warm ist wie eine Decke, haben etwas Unheilvolles an sich. Obwohl ich allein bin, fühle ich mich beobachtet,
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