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Pandemonium

Pandemonium

Titel: Pandemonium
Autoren: Lauren Oliver
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immer in meinem Magen peitscht. »Wo sind wir hier?«
    »Ein paar Kilometer östlich von Rochester«, sagt sie.
    »Rochester, New Hampshire?«, frage ich.
    Sie grinst. »Jep. Du musst ein ziemliches Tempo draufgehabt haben. Wie lange warst du allein da draußen?«
    »Ich weiß es nicht.« Ich lehne den Kopf an die Wand. Rochester, New Hampshire. Das heißt, obwohl ich die Grenze im Norden überquert habe, muss ich einen Bogen geschlagen haben, als ich durch die Wildnis geirrt bin: Ich bin hundert Kilometer südwestlich von Portland gelandet. Obwohl ich tagelang geschlafen habe, bin ich schon wieder erschöpft. »Ich habe völlig das Zeitgefühl verloren.«
    »Ziemlich tough«, sagt sie. Ich bin mir nicht sicher, was »tough« bedeutet, aber ich kann es mir denken. »Wie bist du denn rübergekommen?«
    »Ich war … ich war nicht allein«, sage ich und die Schlange peitscht wieder und hält dann inne. »Ich meine, eigentlich war es nicht geplant, dass ich allein gehe.«
    »Das heißt, du warst mit jemand anderem zusammen?« Sie sieht mich erneut durchdringend an, ihre Augen sind fast so dunkel wie ihre Haare. »Mit einer Freundin?«
    Ich weiß nicht, wie ich sie verbessern soll. Mit einem Freund. Meinem Freund. Meinem Geliebten. Das Wort ist mir immer noch fremd und es kommt mir beinahe verwerflich vor, daher schweige ich.
    »Was ist passiert?«, fragt sie, etwas sanfter jetzt.
    »Er … er hat es nicht geschafft.« Ihre Augen blitzen auf, sie begreift, sobald ich »er« sage: Wenn wir zusammen aus Portland kamen, einem Ort mit Geschlechtertrennung, müssen wir mehr gewesen sein als nur Freunde. Zum Glück fragt sie nicht weiter. »Wir sind bis zum Grenzzaun gekommen. Aber dann haben die Aufseher und die Wachen …« Der Schmerz in meinem Magen nimmt zu. »Es waren zu viele.«
    Sie steht abrupt auf, nimmt einen der mit Wasserflecken übersäten Blecheimer aus der Ecke, stellt ihn neben das Bett und setzt sich wieder.
    »Wir haben Gerüchte gehört«, sagt sie kurz angebunden. »Geschichten von einer großen Flucht in Portland, enormes Polizeiaufgebot, viel Vertuschung.«
    »Du weißt also davon?« Ich versuche noch einmal, mich ganz aufzusetzen, aber die Krämpfe pressen mich zurück gegen die Wand. »Wurde erwähnt, was mit … meinem Freund passiert ist?«
    Ich stelle die Frage, obwohl ich die Antwort bereits kenne. Natürlich kenne ich sie.
    Ich habe ihn da stehen sehen, blutüberströmt, als sie sich auf ihn stürzten, über ihn herfielen wie die schwarzen Ameisen in meinem Traum.
    Das Mädchen antwortet nicht, verzieht nur den Mund zu einem schmalen Strich und schüttelt den Kopf. Sie muss nichts weiter sagen – es ist alles klar. Es steht in ihrer mitleidigen Miene geschrieben.
    Die Schlange entrollt sich ganz und fängt an zu zappeln. Ich schließe die Augen. Alex, Alex, Alex: der Sinn hinter allem, mein neues Leben, das Versprechen auf etwas Besseres – fort, zu Asche verweht.
    Nichts wird mehr gut. »Ich hatte gehofft …« Ich stöhne auf, als dieses fürchterliche, peitschende Ding in meinem Magen auf einer Welle aus Übelkeit in meine Kehle aufsteigt.
    Das Mädchen seufzt erneut und ich höre, wie sie aufsteht und den Stuhl vom Bett wegzieht.
    »Ich glaube …« Ich bekomme die Worte kaum heraus, versuche die Übelkeit zu unterdrücken. »Ich glaube, ich muss …«
    Dann beuge ich mich über die Bettkante und übergebe mich in den Eimer, den sie neben mich gestellt hat, mein Körper wird von den Wellen der Übelkeit geschüttelt.
    »Ich wusste, dass dir schlecht werden würde«, sagt das Mädchen kopfschüttelnd. Dann verschwindet sie in den dunklen Flur. Kurz darauf steckt sie den Kopf zurück ins Zimmer. »Ich bin übrigens Raven.«
    »Lena«, erwidere ich und das Wort eröffnet eine neue Runde Erbrechen.
    »Lena«, wiederholt sie. Sie klopft einmal mit den Fingerknöcheln gegen die Wand. »Willkommen in der Wildnis.«
    Dann verschwindet sie und ich bleibe allein mit dem Eimer zurück.
    Später am Nachmittag kommt Raven wieder und ich esse erneut etwas von der Brühe. Diesmal trinke ich langsam in kleinen Schlucken und es gelingt mir, sie bei mir zu behalten. Ich bin noch immer so schwach, dass ich die Schale kaum an die Lippen halten kann und Raven mir helfen muss. Das müsste mir peinlich sein, aber ich spüre nichts. Die Übelkeit lässt nach und wird von einer so vollständigen Taubheit ersetzt, dass es sich anfühlt, als versänke ich in eisigem Wasser.
    »Gut«, sagt Raven anerkennend,
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