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Pandemonium

Pandemonium

Titel: Pandemonium
Autoren: Lauren Oliver
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aus Geräuschen.
    »Auf geht’s.« Sarah nickt mir aufmunternd zu. Sie ist mindestens sechs Jahre jünger als ich, aber sie behandelt mich, als wäre ich das Kind. Und neben ihr komme ich mir auch wie ein Kind vor.
    »Ich habe keine Gabel«, sage ich leise. Da lacht der blonde Junge wirklich, laut und ausgiebig. Sarah ebenfalls.
    »Keine Gabeln«, sagt sie, »keine Löffel. Kein gar nichts. Iss einfach.«
    Ich wage einen Blick und sehe, dass mich die anderen lächelnd ansehen, offensichtlich amüsiert. Ein grauhaariger Mann, der mindestens siebzig sein muss, nickt mir zu und ich schlage schnell die Augen nieder. Mein ganzer Körper glüht vor Verlegenheit. Natürlich legen sie in der Wildnis keinen Wert auf Besteck und solche Sachen.
    Ich nehme das Stück Kaninchen in die Hand und beiße ein winziges Stück Fleisch von den Knochen ab. Und dann könnte ich wirklich weinen: In meinem ganzen Leben hat mir noch nie etwas so gut geschmeckt.
    »Lecker, hm?«, fragt Sarah, aber ich nicke einfach nur. Plötzlich vergesse ich den Raum voller Fremder, die mich alle ansehen. Ich zerre wie ein Tier an dem Kaninchen. Ich schaufle eine Portion Schlabber mit den Fingern auf und schiebe sie in den Mund. Sogar das schmeckt mir. Tante Carol würde total ausflippen, wenn sie mich so sehen könnte. Als ich klein war, habe ich nicht mal die Erbsen gegessen, wenn sie das Hühnchen berührt haben; ich habe das Essen auf meinem Teller immer in ordentlich getrennte Portionen geteilt.
    Viel zu schnell ist der Teller leer, abgesehen von ein paar vollkommen sauber abgenagten Knochen. Ich lecke mir den letzten Schlabber von den Fingern und wische mir mit dem Handrücken über den Mund. Übelkeit steigt in mir auf und ich schließe die Augen, um sie zu vertreiben.
    »Also dann«, sagt Raven und steht unvermittelt auf. »An die Arbeit.«
    Plötzlich herrscht reges Treiben: Bänke werden zurückgeschoben, ich höre Gesprächsfetzen, denen ich nicht folgen kann (»Hab gestern Fallen aufgestellt«, »Du guckst nach Grandma«), Leute gehen hinter mir vorbei und stellen ihre Teller klappernd in die Spüle, um dann die Treppe zu meiner Linken, direkt neben dem Herd, hochzupoltern. Ich kann ihre Körper spüren und riechen: ein Strom, ein warmer, menschlicher Fluss. Ich halte die Augen geschlossen und während der Raum sich leert, lässt die Übelkeit etwas nach.
    »Wie geht es dir?«
    Ich öffne die Augen und sehe Raven mir gegenüberstehen, beide Hände auf den Tisch gestützt. Sarah sitzt immer noch neben mir. Sie hat ein Knie an die Brust gezogen und die Arme um ihr Bein geschlungen. In dieser Position sieht sie wirklich so alt aus, wie sie ist.
    »Besser«, sage ich, was auch stimmt.
    »Du kannst Sarah mit dem Geschirr helfen«, schlägt sie vor, »wenn du dir das zutraust.«
    »Okay«, entgegne ich und sie nickt.
    »Gut. Und Sarah, du bringst sie anschließend nach oben. Dann lernst du schon mal den Stützpunkt kennen, Lena. Aber übertreib’s auch nicht. Ich will dich nicht schon wieder aus dem Wald schleppen müssen.«
    »Okay«, sage ich noch einmal und sie lächelt zufrieden. Offenbar ist sie es gewohnt, Anweisungen zu geben. Ich überlege, wie alt sie wohl ist. Der Befehlston geht ihr so leicht von den Lippen, obwohl sie jünger sein muss als die Hälfte der Invaliden hier. Hana würde sie mögen, denke ich und der Schmerz kehrt zurück und fährt mir direkt unter die Rippen.
    »Ach, und Sarah« – Raven ist bereits auf dem Weg zur Treppe –, »besorg Lena eine Hose aus dem Lager, okay? Dann muss sie hier nicht halb nackt rumlaufen.«
    Ich spüre, wie ich schon wieder rot werde, und fummele unwillkürlich am Saum meines T-Shirts herum, ziehe es möglichst weit über meine Schenkel. Raven ertappt mich dabei und lacht.
    »Keine Sorge«, sagt sie, »das haben wir alles schon gesehen.« Dann nimmt sie immer zwei Stufen auf einmal und verschwindet die Treppe hinauf.
    Bei Carol musste ich jeden Abend das Geschirr spülen und habe mich mit der Zeit daran gewöhnt. Aber der Abwasch in der Wildnis ist etwas ganz anderes. Erst mal ist da das Wasser. Sarah führt mich zurück durch den Flur bis zu einem der Zimmer, an denen ich auf dem Weg zur Küche vorbeigekommen bin.
    »Das hier ist der Vorratsraum«, sagt sie und runzelt beim Anblick all der leeren Regalbretter und des fast aufgebrauchten Sacks Mehl die Stirn. »Wir sind gerade etwas knapp«, erklärt sie, als ob ich das nicht selbst sehen könnte. Ich verspüre einen Anflug von Angst – um
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