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Die Kinder von Erin (German Edition)

Die Kinder von Erin (German Edition)

Titel: Die Kinder von Erin (German Edition)
Autoren: Helmut W. Pesch
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1
Der Zauber der Harfe
    Von irgendwoher erklang das Lied einer Harfe.
    Es war eine seltsame, berückende Melodie, wie aus Träumen und Erinnerungen gewebt, kristallklar wie der Fall von Tropfen in ein tiefes, grundloses Wasserbecken, verschwimmend wie die Wolken am Sommerhimmel, wenn der Tag sich neigt, flirrend wie das grüne Licht unter den Bäumen …
    Gunhild wachte auf. Im ersten Augenblick wusste sie nicht, was sie geweckt hatte. Das fahle Licht des nahezu vollen Mondes fiel durch das Fenster. Alles war fremd und einen Moment lang hatte das Mädchen keine Ahnung, wo es war. Doch dann nahm es im unsicheren Zwielicht des Mondes und der ohnehin unvollkommenen Dunkelheit am Tag vor der Sommersonnenwende die Umgebung wahr. Hohe, geschnitzte Vertäfelungen am Bett und in den Türen eines schweren Schrankes aus dunklem Holz, dahinter unverputztes Mauerwerk, aus schweren, festgefügten Quadern aufgeschichtet. Sie war auf der Burg.
    Eigentlich war es gar keine richtige Burg, sondern eher ein geräumiges Herrenhaus, aber das machte keinen großen Unterschied. Siggi, ihr kleiner Bruder, war zwar enttäuscht gewesen, weil er eine richtige Ritterburg mit hohen Mauern, Wehrgängen und Türmen erwartet hatte. Dunvegan Castle war zwar alt, aber vor zweihundertfünfzig Jahren völlig umgebaut worden. »Um eine Burg zu modernisieren«, hatte Lady Dunvegan ihnen mit einem freundlichen Lächeln erklärt, »gibt es keine bessere Zeit als das 18. Jahrhundert.« Damals waren dicke Mauern schon nicht mehr zweckmäßig gewesen, da sie keinen Schutz vor einem angreifenden Heer mit Kanonen und den anderen modernen Waffen bot, aber die Bezeichnung »castle« hatte sich eben gehalten. Und Türme und Erker gab es auch auf diesem »baronial castle« genug, sodass man sich trotzdem wie in einem Märchenschloss fühlte.
    Die Lady – genauer: die ›Dowager Lady‹, das heißt Ladywitwe, denn ihr Mann, Lord Edward Fitzroy, der achte Baron Dunvegan, war schon vor vielen Jahren verstorben – war die Tante väterlicherseits ihres englischen Freundes Hagen. Der Plan, gemeinsam hier die Ferien zu verbringen, war schon vor einem Jahr geboren worden. Es hatte einiges an Überzeugungsarbeit für Gunhild und Siggi gekostet, um ihre Eltern zu der Erkenntnis zu bringen, dass ihre Kinder langsam alt genug waren, alleine in Ferien zu fahren. Aber Gunhild hatte schließlich ihren Vater bezirzt und Siggi ihre Mutter so lange bekniet, bis sie die Erlaubnis gekriegt hatten. Und jetzt waren sie hier.
    Beruhigt wollte sich Gunhild wieder umdrehen, aber sie konnte nicht mehr einschlafen. Etwas ließ sie nicht aus dem Zustand zwischen Wachen und Schlafen heraus, ließ sie nicht zurück in das Reich der Träume gleiten.
    Etwas war anders.
    Wieder schlug sie die Augen auf und versuchte diesmal den Schlaf völlig zu vertreiben und richtig klar im Kopf zu werden. Und dann vernahm sie erneut diese seltsame Melodie. Die Klänge lagen gerade oberhalb der Hörschwelle, in dem Bereich, wo man sich fragt, ob man wirklich etwas hört oder ob man sich das alles nur einbildet. Immer wenn Gunhild besonders scharf hinzuhören versuchte, dann war nichts mehr da; aber wenn sie den Kopf wegdrehte, dann glaubte sie es wieder hören zu können: Töne, die einen verzauberten, rein und klar, in schnellen Läufen und Folgen und doch jeder ein Klang für sich allein.
    Die Melodie, die so anders war als das, was sie normalerweise an Musik kannte, kam eindeutig nicht aus dem Haus. Der Harfner musste irgendwo im angrenzenden Park oder bei dem Hügel hinter dem Herrenhaus sein.
    Neugierig stand Gunhild auf und griff nach dem Morgenmantel, der neben dem Bett auf dem Stuhl hing. Sie warf sich den Mantel über die Schultern und machte sich gar nicht erst die Mühe, in die Ärmel zu schlüpfen. Dann eilte das Mädchen ans Fenster, um in die Nacht hinauszusehen.
    Sie beugte sich über die tiefe Fensterbank. Das Fenster war geschlossen, und Gunhild fand keinen Griff, um es zu öffnen. Das Zimmer lag im ersten Stock. Durch die großen Scheiben hatte man einen Blick auf einen begrenzten Ausschnitt des Parks und den Hügel, der sich dahinter erhob. Der Himmel klar und erfüllt von funkelnden Sternen. Doch trotz des Mondlichts, das über dem Land lag, konnte Gunhild den Harfner nicht ausmachen, der diese wunderbare, gefühlvolle Melodie spielte.
    Wer dieser geheimnisvolle Musikant wohl sein mochte? Gunhild war nun absolut wach – und neugierig. Sie wollte wissen, wer die Harfe schlug, die sie
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