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Intensity

Intensity

Titel: Intensity
Autoren: Dean R. Koontz
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das Mädchen abgeschnittene Jeans und eine langärmelige Bluse. Es stand barfuß am Wasserrand, die Brandung umspielte seine Knöchel, aber es stand nicht, wie üblich, wie ein Zombie da und starrte auf die Bucht hinaus. Statt dessen hatte es die Arme über den Kopf gehoben und schwang die Hände in der Luft, während es stumm auf der Stelle tanzte.
    »Sie liebt die Bucht so sehr«, sagte Ned.
    Chyna konnte nicht sprechen.
    »Sie liebt das Leben«, sagte er.
    Während Chyna an ihren Gefühlen fast erstickte, betete sie, er möge recht haben.
    Das Mädchen tanzte nicht lange, und als es später zur Decke zurückkehrte, war sein Blick so verträumt wie eh und je.
    Im Dezember dieses Jahres, über zwanzig Monate nach der Flucht aus Edgler Vess’ Haus, wurde Ariel achtzehn Jahre alt. Sie war jetzt kein Mädchen mehr, sondern eine hübsche junge Frau. Doch im Schlaf rief sie noch oft nach ihren Eltern und ihrem Bruder, und ihre Stimme – die man nur bei diesen Gelegenheiten vernehmen konnte – klang jung, zerbrechlich und verloren.
    Dann, am Weihnachtsmorgen, entdeckte Chyna zwischen den Geschenken für Ariel, Ned und Jamie, die im Wohnzimmer ihres Apartments unter dem Baum lagen, verblüfft ein kleines Päckchen für sich selbst. Es war mit großer Sorgfalt eingepackt, auch wenn es den Eindruck machte, als sei ein Kind mit mehr Begeisterung als Geschick am Werk gewesen. Ihr Name stand mit unregelmäßigen Blockbuchstaben auf einem Schildchen in Form eines Weihnachtsmannes geschrieben. Als sie das Päckchen öffnete, fand sie darin einen blauen Papierstreifen. Auf dem Papier standen drei Worte, die offensichtlich mit beträchtlicher Mühe, großem Zögern und zahlreichen Unterbrechungen und Neuanfängen geschrieben worden waren: Ich will leben.
    Mit hämmerndem Herzen und geschwollener Zunge ergriff sie beide Hände des Mädchens. Eine Zeitlang wußte sie nicht, was sie sagen sollte, und hätte sie es gewußt, hätte sie es nicht sagen können.
    Schließlich kamen zögernd Worte: »Das … das ist das schönste … das schönste Geschenk, das ich je bekommen habe, Schatz. Das ist das Schönste, was es überhaupt geben kann. Mehr will ich gar nicht … Ich möchte nur, daß du es versuchst.«
    Durch Tränen las sie die drei Wörter erneut.
    Ich will leben.
    »Aber du weißt nicht, wie du zurückkommen kannst, nicht wahr?« sagte Chyna.
    Das Mädchen war ganz still. Dann blinzelte es. Seine Hände drückten die Chynas fester.
    »Es gibt eine Möglichkeit«, versicherte Chyna.
    Das Mädchen drückte Chynas Hände noch fester.
    »Es besteht Hoffnung, Baby. Es besteht immer Hoffnung. Es gibt einen Weg, und niemand findet ihn allein, aber gemeinsam können wir es schaffen. Wir können ihn gemeinsam finden. Du mußt nur daran glauben.«
    Das Mädchen konnte keinen Blickkontakt herstellen, hielt aber weiterhin Chynas Hände fest.
    »Ich will dir eine Geschichte erzählen, von einem Mammutbaumwald und etwas, das ich eines Abends darin gesehen habe und das ich später wiedersah, als ich es sehen mußte. Vielleicht wird es dir nicht so viel bedeuten, und vielleicht bedeutet es allen anderen Leuten überhaupt nichts, aber für mich hat es die ganze Welt bedeutet, auch wenn ich es nicht ganz verstanden habe.«
    Ich will leben.
    Im Lauf der nächsten Jahre war die Straße, die vom Wilden Wald zurück zu den Schönheiten und Wundern dieser Welt führte, für Ariel nicht einfach zu begehen. Es gab Zeiten der Verzweiflung, da sie nicht die geringsten Fortschritte, sogar Rückschritte zu machen schien.
    Doch schließlich kam ein Tag, als sie mit Ned und Jamie zu diesem Mammutbaumwald fuhren.
    Sie gingen zwischen den Farnen und Rhododendren im weihevollen Halbdunkel unter den gewaltigen Bäumen einher, und Ariel sagte: »Zeig mir, wo.«
    Chyna nahm sie an der Hand und führte sie zu der Stelle. »Hier«, sagte sie.
    Welche Angst hatte Chyna in dieser Nacht gehabt, als sie so viel für ein Mädchen riskierte, das sie nie gesehen hatte. Weniger Angst vor Vess als vor dieser neuen Sache, die sie in sich entdeckt hatte. Diese unbesonnene Fürsorge. Und jetzt wußte sie, daß sie gar keine Angst hätte haben müssen. Das ist der Sinn unseres Lebens. Diese unbesonnene Fürsorge.

epub-Version erstellt im Januar 2013 von einem Schalke-Fan. Glück auf!
    Grüße an SPIEGELBEST und die Hörspiel-Scene!

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