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Indigo (German Edition)

Indigo (German Edition)

Titel: Indigo (German Edition)
Autoren: Clemens J. Setz
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Straßenseite ging eine Frau, die mit dem typischen Gesichtsausdruck junger Mütter in den Kinderwagen vor ihr blickte. Sie folgte ihm mit vorsichtigen Schritten, als hätte er, wie ein Rasenmäher, einen eigenen Willen. Bestimmt hatte sie Kopfschmerzen und würde sich demnächst auf ihr Kind übergeben, wie so viele Mütter jeden Tag in diesem Land.
    Nach einer Weile erkannte Robert die Gegend wieder. Richtig, das LKH, und hier die Haltestelle der Straßenbahn. Sollte er mitfahren, so wie damals? Eine Frage, wie man sie sich sonst nur auf einem Rummelplatz stellte, vor einer altersschwachen Achterbahn.
    Er stieg ein, nickte dem iBall zu und setzte sich auf einen der hintersten Plätze. So würde er eine Sekunde länger Zeit haben, um das Schild an der Konditorei auf sich zukommen zu sehen.
    Die Straßenbahn fuhr los. Häuser zogen an ihm vorbei. Parkende Autos. Gleich würden sie die Konditorei erreichen … Die Tasche mit den leeren Mappen hatte er sich auf die Knie gelegt.
    Ein Rattern ging durch die Straßenbahn, möglicherweise lagen Centmünzen in den Spurrillen der Schienen. Zumindest hatte Robert das mal im Fernsehen gesehen, vor vielen Jahren.
    Haltestelle Merangasse. Aber da war kein Schild, an dem sein Blick hätte hängenbleiben können. Wo früher die Konditorei war, befand sich jetzt ein Friseursalon. Schwarze Mannequinköpfe drehten sich, augenlos, perückentragend, auf rotierenden Pfählen im Schaufenster.
    Der Mittag zog mit läutenden Glocken durch den Bezirk. Aber Robert wurde davon nicht hungrig. Er war ganz ruhig. Wäre er eine Katze gewesen, hätte er wahrscheinlich sogar vergessen zu schnurren. Zwischen den einzelnen Sekunden des Tages machte sich ein angenehmes Glühen bemerkbar, wie in den Ritzen von Rolltreppen. Selbst, wenn er nicht darauf achtete, konnte er es erahnen. Mit geschlossenen Augen.
    Dieser völlig zerstörte Mensch, dachte er. Der Mathematiklehrer. Ein Wunder, dass er sich nicht längst einem Festumzug angeschlossen hat. Er war wie ein Haufen Asche, mit dem der Wind schon zu spielen begonnen hatte. Wo waren jetzt all die Kegelschnitte und Pyramiden und Tetraeder und Vektorräume und Matrizen, mit denen er sein Leben verbrachte? Würden sie ihm irgendwann zu Hilfe kommen? Würden sie sich um ihren alten Vertrauten versammeln, wie ein Schwarm vernunftbegabter Insekten? Oder würden sie ihn verlassen, wie man – laut Armstrong, Aldrin und einer Handvoll anderer Teilnehmer späterer Mondmissionen – plötzlich und unerklärlicherweise von einem Großteil seiner Kindheitserinnerungen verlassen wurde, nachdemman vom Mond zurückgekehrt war? Der Mädchenname von Buzz Aldrins Mutter war Moon.
    Robert stellte sich vor, wie der Lehrer sich selbst die Schädeldecke abschraubte und mit der Hand in seinen Kopf fasste, der mit einer schwarzen, körnig-trockenen Substanz gefüllt war. Er holte eine ganze Faust voll davon hervor und steckte sie sich in den Mund. Kaute. Schluckte. Schüttelte den Kopf und murmelte: Auch nicht besser.
    Normalerweise hätte Robert über eine solche Vorstellung gelacht. Und hätte vielleicht den Wunsch verspürt, sie zu zeichnen.
    Aber jetzt war er vollkommen ruhig. Er wünschte sich nichts. Wie Asche an einem windstillen Platz, etwa auf dem Mond. Die amerikanische Fahne dort sieht seit mehr als fünfzig Jahren aus wie ihr eigenes Foto, sie flattert nie, steht da wie ein Brett.
    Vor ein paar Tagen hatte Robert den Mond am Tag gesehen. Dieses bedauernswerte Versehen im Sonnensystem. Dieser verwirrte Ausdruck, den er hatte. Die Menschen auf der Brücke, die sich nicht um ihn kümmerten. Es war schrecklich, ihn so zu sehen. Mit schwerer Schlagseite, halb gekentert im Blau. Hellweiß und zart wie Gehörknöchelchen. Und kein Zuständiger, kein Notdienst, dem man es hätte melden können, wie man einen gestrandeten Wal meldet oder eine junge Katze, die in einer Baumkrone festsaß. Als wäre der Himmel eine Klebefalle, ausgelegt vor Tausenden Jahren, in der er sich heute Morgen verfangen hatte und von wo er nun befremdet und zugleich fasziniert herunterstarrte auf die ihm sonst unbekannten Tageslichtspielarten der Menschen und Tiere, unfähig, sein Gesicht mit dem halb offenstehenden Krater-Mund auch nur für eine Sekunde von uns abzuwenden.

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