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Indigo (German Edition)

Indigo (German Edition)

Titel: Indigo (German Edition)
Autoren: Clemens J. Setz
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habe, die sich ausschließlich mit den beiden neuen Mitbewohnern abgegeben habe, sei er wütend geworden, körperlich wütend, da sei ihm die Wut wie ein Blitz in dieStirnhöhlen geschossen und er habe nicht mehr gewusst, wo er sich befinde und was er tue. Eine Frau aus Leeds, die wegen grober Vernachlässigung ihrer Tochter angeklagt und zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt worden war, meinte, sie habe sich gegen den Tinnitus wehren müssen, den sie immer dann bekommen habe, wenn ihre Tochter sich ihr genähert und sie um etwas gebeten habe, wie z. B. ein Paar Socken.
    Diese finstere Debatte schwappte schnell auf andere Länder über. Im September erschien eine ähnliche Interviewserie mit gewalttätigen und verurteilten Eltern im Wochenmagazin Stern. Und überall begann es plötzlich von Apologeten elterlicher Gewalt zu wimmeln, doch das wirklich Auffällige
    [Computerausdruck, zweimal gefaltet]
    Bartleby der Schreiber – es gibt nicht nur diesen einen, es gibt viele seiner Art, viele, viele Bartlebys. In den merkwürdigsten Berufen und Lebensbereichen. So wird zum Beispiel von dem rätselhaften Fall eines Folterknechts in dem berüchtigten kampucheanischen Gefängnis S-21 berichtet. In diesem Gebäude, das früher eine Schule beherbergte, starben Zehntausende Menschen durch die Hand von schätzungsweise eintausendfünfhundert Folterbeamten. Einer davon, ein unter dem Namen Ek bekannter Mann, soll sich eines Tages vollständig den Folterungen verweigert haben. Er saß neben dem Gefangenen, dem er mit Stromschlägen, minutenlangem Eintauchen in eiskaltes Wasser oder grausamen chirurgischen Eingriffen zuerst ein Geständnis abzupressen und den er anschließend zu ermorden hatte, und wiederholte stereotyp ein und denselben Satz, er wolle nichts mehr tun, nichts mehr, nie wieder. Man kam erst nach einigen Wochen dahinter und sperrte ihn ebenfalls ein. Aber selbst dadurch ließ sich der Mann nicht von dem immer gleichen Satz abbringen. Es heißt, ein früherer Kollege hatte schließlich Mitleid mit ihm und tötete ihn mit Starkstrom.
    [Ein Briefumschlag mit der Aufschrift Klarstellung. Der einzige in der Mappe. Inhalt: mehrere lose Blätter, eng beschrieben]
    In der Seilbahn kündigte sich ein Migräneanfall an. Schon seit meiner Kindheit leide ich unter solchen wiederkehrenden Anfällen, meist werden sie begleitet von Blickfeldverzerrungen, Skotomen und Halluzinationen. Lichter erscheinen am Rand meines Gesichtsfeldes und verändern ständig ihre Form und Intensität, oder es treten blinde Flecken auf und verschlucken Gegenstände an der Peripherie. Eine Vase auf einem Tisch ist aus einem bestimmten Blickwinkel unsichtbar, das Loch im Gesichtsfeld wird von meinem Gehirn einfach in der Farbe der Tischplatte überpinselt: ein leerer Tisch. Lesen und Sprechen wird schwierig, Wörter bleiben zwar erkennbar, wirken aber wie ihre Binnen-Anagramme, Apfel erscheint zum Beispiel als Afpel, auch dann, wenn ich das Wort Buchstabe für Buchstabe untersuche, komme ich einfach nicht auf den Fehler und weiß plötzlich, dass ich mich im Inneren einer Migräneaura befinde. Eine merkwürdige Welt ist das, ein Paralleluniversum, in dem man durch Türen gehen kann, die sich hinterher nicht mehr an ihrem früheren Platz befinden. Man spricht ein Wort aus, und es hat die falsche Farbe. Oder man blickt auf einen Baum und entdeckt Geometrien in der Anordnung seiner Äste.
    – Machen Sie’s auf, sagte der Mann mit dem Zwicker auf der Nase.
    Ich öffnete den Umschlag und holte das Foto heraus. Eine Aufnahme eines leeren Raums. Nur ein Tisch stand darin. Darauf ein Kaktus in einem Blumentopf.
    Ich gab das Bild zurück. Meine Hand hatte zu zittern begonnen. Der Wind pfiff um die stillstehende Gondel. In der Ferne die blinkenden Lichter des abendlichen Gillingen. In den Gondeln vor und hinter uns, unerreichbar, schaukelten die anderen.
    – Wir bieten Ihnen einen Tauschhandel an, Herr Seitz.
    Ein Vibrieren ging durch die Gondel. Unter uns Bäume, ein Abhang.
    – Sie bekommen das, was Sie immer schon wollten.
    Er zog etwas aus seinem Rucksack und überreichte es mir. Ein sehr dünnes und ein etwas dickeres Paket Papier.
    – Ist nicht gerade Fontane, aber Sie werden feststellen, dass Sie lieber diesen Weg einschlagen, als auf dem zu verfau… zu verweilen, auf dem Sie sich jetzt befinden. Denn dieser Weg führt zu nichts, Herr Seitz.
    – Welchen Weg genau meinen Sie?
    Ein Knarren in den massiven Stahlseilen, an denen wir
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