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Indigo (German Edition)

Indigo (German Edition)

Titel: Indigo (German Edition)
Autoren: Clemens J. Setz
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Pfarrer in der Kirche spricht mit Inbrunst, denn hier ist es noch kühl, und er kostet es aus, solang es geht. Dann, im Freien, hinter dem Sarg, auf dem Weg hinauf zum Friedhof, lösen sich die ordentlichen Zweierreihen schnell auf, die Menschen bleiben zurück, müssen sich die Schuhbänder neu binden. Wer einen Hut hat, setzt ihn wieder auf – er wird ihn erst wieder abnehmen, wenn er vor das Grab tritt und, zum Zeichen seiner Reverenz, die unbarmherzige Sonne barhäuptig ertragen.
    Es geht an Hecken und stillen, umzäunten Obstgärten vorbei. Ein beißender Geruch nach Grillkohle, vermischt mit etwas anderem, möglicherweise Weihrauch, liegt in der Luft. Insekten umschwirren den Kondukt, werden verscheucht, summen träge und hartnäckig zwischen den in gebeugter Haltung bergauf Marschierenden.
    Ich schwitzte am ganzen Körper, die Auflösung beginnt in den Poren, Verflüssigung, aber ich traute mich nicht, aus der mitgebrachten Mineralwasserflasche zu trinken, die Geste hätte pietätlos wirken können. In der heißen Jahreszeit ist das Gefühl, buchstäblich zur Erde zu gehören, aus ihren planetaren Chemievorräten gebaut worden zu sein, viel stärker und überzeugender. Der Winter mit seinem kalten, weißen Skalpell trennt derartige Überlegungen vom Körper ab, der Mensch wird zu einem Gespenst, das durch die Schneelandschaft treibt, versteckt unter vielen Lagen warmer Kleidung, und ich kann mir nur schwer vorstellen, welches Körperempfinden ich hätte, müsste ich auf diese existenzielle Abkühlung verzichten, die mir einmal im Jahr zwei, drei friedliche Monate beschert.
    – Herr Setz, ich wollte Ihnen unbedingt etwas sagen.
    – Natürlich. Bitte.
    Frau Stennitzer kam ganz nahe an mich heran. Ihr Blick wich meinem aus, sie starrte auf meinen Bauch. Dann hob sie ihren Kopf für einen Augenblick und blinzelte, als wäre mein Gesicht eine zu helle Glühbirne.
    – Sie müssen eines verstehen, sagte sie. Ich bin mir nicht sicher, ob Sie es wirklich begreifen können. Ich bin Ihnen dankbar. Dafür, dass Sie …
    Sie schloss die Augen, als sei es zu schmerzhaft, das Wort auszusprechen. Stellvertretend machte sie eine Schreibgeste mit der Hand.
    – Man hat hier natürlich Ihre Artikel gelesen, sagte sie. Alle haben sie gelesen. Und es waren danach noch ein paar andere Journalisten da, nicht nur wegen der Seilbahn, und … na ja, erinnern Sie sich noch an die Stelle in meinem Garten, Herr Setz?
    – In Ihrem Garten?
    – Der Kegel.
    – Ah ja, natürlich.
    – Damals habe ich Ihnen ja erklärt, was die Genehmigung für eine Be… eine Trauerf…
    Sie konnte nicht weitersprechen. Ihre Unterlippe versuchte, aus dem Gesicht zu entkommen.
    Ich streckte meine Hand nach ihrer Schulter aus, aber sie wich zurück.
    – Ich bin Ihnen dankbar, sagte sie mit kalter, tief verletzter Stimme. Sie haben gar keine Ahnung wie sehr. Ihre Artikel … sogar der Bürgermeister …
    Wieder verstummte sie. Dann blickte sie zur Seite, atmete durch den Mund ein, strich sich eine Haarsträhne aus dem Mundwinkel und sagte:
    – Es sind alle gekommen. Ich musste nicht einmal Einladungen verschicken. Dank Ihnen, Herr Setz. Dank Ihnen und Ihren … Artikeln.
    Damit ließ sie mich stehen.
    Ein Mann mit einer altmodischen Zwicker-Brille auf der Nase war unter den Trauergästen. Er hatte seinen Blick auf mich geheftet. Ich erwiderte ihn, hielt ihm einige Sekunden lang stand und schaute dann woanders hin. Als ich wieder zu ihm sah, war sein Blick unverändert. Stechend, intensiv. Möglicherweise wütend.
    Da fiel mir auf, dass ich noch immer die weißen knopfförmigen iPod-Kopfhörer um den Hals hängen hatte. Ich steckte sie schnell weg. Du liebe Zeit, deutete ich durch eine entschuldigende Geste in Richtung des Mannes. An seinem aggressiven Starren änderte das nichts. Zumindest hob er seinen Zeigefinger an seine Schläfe und grüßte. Ich grüßte zurück.
    Auf dem Holzkreuz an Christophs Grab waren seine Initialen groß hervorgehoben. C. S.
    Im Herrn angekommen, stand darunter.
    Ich taumelte ein paar Schritte zurück und trat aus Versehen jemandem auf den Schuh.
    Nach dem Begräbnis gingen die Verwandten und Bekannten auseinander, nur wenige Menschen versammelten sich um Frau Stennitzer. Sie beäugte mich aus der Ferne. Ich vermutete, dass sie mir, wenn ich noch mal auf sie zugehen würde, einen Arm oder vielleicht ein Auge ausreißen würde.
    Sie deutete in meine Richtung, und ein Mann mit einem komischen hohen Hut, der vor
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