Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Indigo (German Edition)

Indigo (German Edition)

Titel: Indigo (German Edition)
Autoren: Clemens J. Setz
Vom Netzwerk:
anders. Christoph war wirklich bereit, verstehen Sie? Sie haben keine Ahnung. Sie haben überhaupt keine Ahnung.
    Die letzten Worte verloren sich in ihrer Brust, denn sie sprach mit hängendem Kopf. Ihre Stimme hatte sich an einen warmen, vertrauten Ort zurückgezogen, in den Obstgarten der Kindheit vielleicht oder in die lebendige Erinnerung an die unschuldig gebliebene Vergangenheit.
    C. S., dachte ich. Die Initialen am Grab.
    Arrivé.
    Die Sonne begann ums Haus zu tanzen, und ich musste mir die Hand an die Schläfe legen, um nicht auf der Stelle umzufallen.
    – Sie sind nichts wert, sagte Frau Stennitzer. Kommen Sie. Ich zeige Ihnen etwas.
    Sie ging mit mir durch das Haus und über die Terrasse in den Garten. Der Anblick von Christophs ausgebranntem Häuschen hatte überraschenderweise nichts Verstörendes. Es sah aus, als wäre das Haus neu angemalt worden, mit schwarzer, blasenreicher, körniger Teerfarbe. Da Einsturzgefahr bestand, machten wir nur einige Schritte ins Gebäude hinein. Ich blieb vor der Tür stehen, die nach rechts in das Schlafzimmer des Jungen führte, und sah mich um. Als wäre es eine Skulptur aus Zündhölzern gewesen, sagte Frau Stennitzer, sei das Häuschen in Flammen aufgegangen.

    Draußen vor dem Häuschen im mit Glassplittern übersäten Gras lag die braune Luftmatratze, unversehrt.
    Frau Stennitzer erzählte mir, wie und wo sie sie gefunden hatte.
    In einiger Entfernung vom Haus habe sie gelegen, neben ihr Bierdosen, Zigarettenstummel und auch ein (sie benötigte ihre ganze Energie, um das Wort auszusprechen) gebrauchtes Präservativ.
    Sie habe die Luftmatratze in die Hand genommen, warmes stoffartiges Material, überhaupt nicht glatt, bestimmt für nasse, glückliche Körper, die sich eine Zeitlang im Wasser treiben lassen wollten.
    Ohne sich um den Müll, der daneben im Gras lag, zu kümmern, habe sie das luftgefüllte Ding ins Haus getragen. Ihr sei gar nicht klar gewesen, was sie da tat. Im anderen Fall hätte sie es wahrscheinlich gar nicht bis ins Wohnzimmer geschafft, sie hätte die Luftmatratze wohl fallen lassen, vielleicht sogar im Schock den Stöpsel herausgezogen – und wie eine wahnsinnige Albtraumgiraffe hätte diese prustend und stimmlos wiehernd über so viel Unglück im menschlichen Universum ihre Luft von sich gegeben.
    Erst als die Luftmatratze auf der Couch lag, sei ihr bewusst geworden, dass es sich um einen riesigen Speicher von Atemluft handle. Dem Lungeninhalt ihres Sohnes. Durch kleine Schleusen verbundene Stauräume wie in einem Öltanker, so dass ein Leck nicht alles sofort zum Sinken brachte. Atemluft. Braun verpackt.
    Sie sei aus dem Zimmer gegangen und habe sich gefragt, an welcher Stelle man die Matratze berühren konnte, ohne Schaden zu nehmen.
    Der weltweit größte Speicher von Atemluft des verstorbenen Christoph Stennitzer.
    Da habe sie lachen müssen, erzählte sie mir.
    Ich machte eine hilflose Geste mit beiden Armen und versuchte wieder, Frau Stennitzer tröstend eine Hand auf die Schulter zu legen. Aber sie wich vor mir zurück.
    – Wir unternehmen später noch eine Fahrt mit der Seilbahn, sagte sie. Ein paar Freunde und ich. Vielleicht wollen Sie sich uns anschließen, Herr Setz?
    – Gern, sagte ich.
    – Weil, jetzt waren Sie schon zweimal bei uns in Gillingen und haben die Seilbahn noch nicht einmal aus der Nähe gesehen.
    Und für einen Augenblick huschte ein merkwürdiges, fast aufgeregtes Lächeln über ihr Gesicht.

3  Der Sieger
    Wie schön das aussah, wenn Papier verbrannte. Man sollte jeden Tag etwas verbrennen, so wie man sich jeden Tag die Zähne putzt.
    Die Mappen konnte man vielleicht noch gebrauchen. Robert steckte sie in seinen Rucksack.
    Das Angenehmste an der Sache war, dass er gar nicht sagen konnte, warum er es getan hatte. Nur Schurken empfinden keine Reue, Robin. Er lächelte, schloss die Augen und lehnte sich zurück. Ausgebrannt.
    Als er aus der engen Seitengasse trat und sich die rußigen Finger an seiner Hose abwischte, musste er an Willis Wohnung denken und an das, was er ihr angetan hatte. Er stellte sich Cordula vor, wie sie viermal am Tag duschte, um den grauenhaften Geruch von ihrem Körper zu waschen. Irgendwann würden sie Kinder bekommen, Willi und Cordula, und sie würden genauso aussehen wie alle anderen Paare. Kein Unterschied.
    Und für eine Weile wird das alles noch so weitergehen. Zuerst Distanz, dann Überwindung von Distanz, dann Vereinigung und wieder Distanz.
    Auf der gegenüberliegenden
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher