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Indigo (German Edition)

Indigo (German Edition)

Titel: Indigo (German Edition)
Autoren: Clemens J. Setz
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immer noch täglich aussetze. Und wie es mit den Hüftgelenken ausschaue. Insgesamt ganz gut, lautet die Antwort des Mannes. Er habe die Energie von zehn Jazzmusikern, sagt er. Free Jazz, setzt er präzisierend hinzu und lacht. Sein Lachen wird vom Klopfen des Stocks auf den Boden begleitet. Diese Tasse, sagt er plötzlich und zeigt auf seinen halb ausgetrunkenen Milchkaffee. Diese Tasse sei jahrelang vor ihm sicher gewesen, aber jetzt seien diese Zeiten vorbei. F. und ich sehen uns an. Schauen Sie, sagt der Mann und streckt seine Hand nach der Tasse aus. Nichts tut sich. Wir achten genau auf die Tasse. Aber sie rührt sich nicht. Wenn Sie den Kaffee jetzt probieren würden, sagt der Mann, werden Siefeststellen, dass er kalt ist. Vorher war er heiß, ich habe mir mehrere Male schon die Lippen daran verbrannt. Immer wird mir der Kaffee hier im Pflegeheim zu heiß serviert, die Leute haben einfach kein Fingerspitzengefühl. Wir nicken. F. nimmt die Kaffeetasse in die Hand und untersucht sie. Seine Bewegungen wirken dabei wie im Traum, und ich muss mich abwenden, um nicht den Verstand zu verlieren.
    Als wir das Zimmer des Mannes verlassen, hält mich F. auf, er legt seine Hand auf meine Schulter und übt sanften Druck aus. Das, was Sie gerade gesehen haben, sagt er zu mir, ist ein großer Mann. Ein wirklich großer Mann. Das, was er auf sich zu nehmen bereit war – und immer noch auf sich nimmt –, ist einfach beispiellos. Sie werden so etwas nicht so bald wieder finden, egal, wo Sie danach suchen, Herr Seyss.
    [Postkarte, die einen fröhlich lächelnden Hund in einer Raumkapsel zeigt. Blockschrift auf der Rückseite]
    Weihnachten, vor den Fenstern dichter, wirbelnder Schnee. Der Versuch, den elenden Plastikbaum aufzustellen. Früher hat mich der Geruch des Holzes und der Tannennadeln noch angeregt, aber diesen geruchlosen Plastikmist möchte ich am liebsten gleich wieder aus dem Fenster werfen. Ich breche einen der künstlichen Zweige ab und verwende ihn als Katzenspielzeug.
    [2 Seiten handschriftlich]
    Siehe Bericht über Frau aus Großbritannien, die davon überzeugt war, dass ihr Kind ein I-Kind war. Heute ist eindeutig belegt, dass das Kind die üble Wirkung gar nicht besaß. Trotzdem dauerte es ganze sechs Jahre, bis die Wahrheit ans Licht kam, vorher wurde das Kind als I-Kind behandelt, es war die meiste Zeit allein, ein Arzt kam einmal in der Woche und führte innerhalb weniger Minuten, buchstäblich im Eiltempo, seine Untersuchungen durch (undklagte hinterher über Kopfschmerzen). Die Frau sperrte das Kind auch noch über das sechste Lebensjahr hinaus ein, da sie die Wirkung immer noch fühlen konnte, die Schmerz- und Schwindelattacken ließen sich von den wissenschaftlichen Beweisen nicht beeindrucken, sondern verschlimmerten sich nur, da niemand ihr glauben wollte. Sie wusste, sie war felsenfest davon überzeugt, dass ihre Tochter ein I-Kind war, dessen Gegenwart sie langsam zerstörte. Eine andere Erklärung ihrer körperlichen Leiden wies sie entschieden von sich. Schließlich musste das Jugendamt eingeschaltet werden, und es kam zu einem Prozess, an dessen Ende die Mutter das Kind zwar behalten durfte, sich aber einer Therapie unterziehen und regelmäßige unangekündigte Kontrollen durch die zuständigen Behörden in ihrem Heim ermöglichen musste.
    Dieser Fall hatte, wie sich herausstellte, eine sonderbare Konsequenz. Zuerst regte er natürlich die Diskussion an, ob nicht viele Indigo-Fälle auf reiner Einbildung basierten. Das unwissenschaftliche Konzept einer rätselhaften Fernwirkung wurde wieder aufgeführt, die mangelhaft durchgeführten Untersuchungen und Experimente, die allgemeine Suggestibilität des Menschen. Alle alten Argumente. Doch dann nahm die Debatte eine überraschende Wendung, eine Artikelserie im Guardian erschien ( Voices from the Void, 1.-11.  Mai 2005 ), in der Eltern interviewt wurden, die wegen Kindesmissbrauch verurteilt worden waren. Und viele von ihnen nannten plötzlich Gründe für ihr unentschuldbares Verhalten, die an I-Symptome denken ließen. Ein neununddreißigjähriger Mann, der seine beiden gerade einmal eineinhalb Jahre alten Zwillingssöhne in eine Waschmaschine gestopft hatte und dort vierundzwanzig Stunden lang eingesperrt ließ (allerdings ohne die Maschine einzuschalten), behauptete, es sei ihm immer gutgegangen, wenn er bei der Arbeit oder unterwegs gewesen sei, no problems whatsoever, aber sobald er nach Hause gekommen sei und dort seine Frau gesehen
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