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Gauß: Eine Biographie (German Edition)

Gauß: Eine Biographie (German Edition)

Titel: Gauß: Eine Biographie (German Edition)
Autoren: Hubert Mania
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1. Eine, zweie, dreie
    Etwas schrammt über den Küchentisch, und der Vater sagt eine, zweie, dreie. Auch auf Zehenspitzen stehend, gelingt dem Dreijährigen kein Blick über die Tischkante. Dabei wüsste er zu gern, was der Vater da treibt. An seinem Hemdsärmel zupfen möchte er jetzt lieber nicht, denn sonst setzt es wieder laute, böse Worte. Aber wenn er behutsam auf den zweiten Stuhl kletterte, sich auf den Sitz kniete und dabei keinen Mucks von sich gäbe? Viere, fünfe, sechse: Der Vater ist so vertieft in sein undurchsichtiges Spiel, dass er die Kletterpartie seines neugierigen Sprösslings gar nicht bemerkt. Der sieht jetzt kleine flache Scheiben über die Tischplatte rutschen. Manche glänzen wunderbar rötlich wie der neue Kessel, in dem die Mutter das Zwetschgenmus rührt. Andere sind abgegriffen und von ähnlich stumpfer Farbe wie das uralte Stroh im Schuppen hinterm Haus. Siebene, achte, neune: Gebhard Dietrich Gauß häuft die Scheiben zu Türmchen auf, niedrige strohfarbene und höhere kesselfarbene, nur um sie gleich wieder zum Einsturz zu bringen und mit der hohlen Hand über die Tischkante in Papiertüten zu schieben, auf die er ein paar schwungvolle Striche mit Haken, Bäuchen und Schleifen malt. Was für ein seltsames Spiel. *
    Gedämpfte Stimmen vor der Tür. Ein Geselle und zwei Handlanger betreten die Küche. Ihre Schürzen und Hosen sind von rotbraunen Lehmspritzern übersät. Sie riechen muffig nach der ewigen Feuchtigkeit des Lehms und ihrem sauren Schweiß. Der Vater ruft die Namen auf und überreicht jedem eine Tüte. Am späten Samstagnachmittag sind die Handwerker stets guter Dinge. Sie scherzen verhalten untereinander und bedanken sich artig bei Vater Gauß, während einer von ihnen die klingenden Scheiben durch seine Finger gleiten lässt: zehne, ölwe, zwölwe. Auch die Mutter sagt «zwölwe» und zeigt dabei auf den Suppentopf auf dem Herd. Oder sie lauscht dem Glockenschlag der nahen Katharinenkirche und sagt dann eines dieser seltsamen Worte, die auch der Vater vor sich hin murmelt, wenn er samstags die blanken Scheiben über den Küchentisch sausen lässt. Der kluge Junge erkennt den Zusammenhang und ahnt die Bedeutung. Er spricht die Silben täglich aufs Neue vor sich hin, prägt sich ihre Reihenfolge ein und wird sie nie wieder loslassen.
    Für seine täglichen Abzählübungen erobert sich Carl Hinterhof, Stallungen und Garten. Noch bevor ihm die Namen geläufig sind, hat er sie längst alle auf Reihe gebracht. Kartoffelbüsche: 12 + 12 + 12 + 12 + 12 + 12 + 7. Runkelrüben: 12 + 12 + 12 + 3. Astern: 12 + 8. Rotkohlköpfe: 12 + 4. Auch wenn er in der Küche bei der Mutter sitzt, hat er jedes Beet deutlich vor Augen: So, wie es wirklich angelegt ist, und obendrein in seine selbsterfundenen, erd- und unkrautfreien Zwölferreihen übertragen. Da gibt es nur Punkte, perfekte Kreise und gerade Linien. Weder Kartoffelkäfer noch umherschwirrende Kohlweißlinge können ihn hier ablenken. Und deshalb gerät das Zählen in dieser von Schmutz, Lärm und Gestank befreiten Welt auch so wunderbar geschwind. Obwohl die Glocke der Katharinenkirche nach jeder Zwölf wieder mit der Eins beginnt, ahnt er bereits, dass diese Zahl nicht das Ende sein kann. Einmal hört Carl den Vater «achtzehn» sagen. Stiefbruder Georg soll ein Fuder Haselnussgerten mit dem Beil auf 18 Zoll kürzen, damit sie bequem in Fachwerkwände geflochten und mit Lehm bestrichen werden können. Acht und zehn sind zwölf und sechs. Zwölwe-eine, zwölwe-zweie, zwölwe-dreie, zwölwe-viere, zwölwe-fünfe, achtzehn. Eine, zweie, dreie …
    Die Zahl der Richtscheite und Schalbretter im Werkzeugschuppen neben dem Schweinestall hat sich den ganzen Winter über nicht geändert. Hier, in diesem lichtlosen Bretterverschlag, riecht es dumpf nach feuchter Erde, so wie Vater, Geselle und Tagelöhner im Sommer auch immer riechen. Die Rückstände des ranzigen Käsewassers in den Eimern aus Fichtenholz verdrängen für ein paar Augenblicke den penetrant modrigen Gestank, der aus dem Schweinestall wabert und wie ein nicht abzuschüttelndes Gespenst ständig über Hof und Garten schwebt. Am nächsten Morgen erkennt der Knirps mit einem flüchtigen Blick, dass der Vater vom ersten Stapel 18 + 2 Gerten weggenommen haben muss. Stumm steht er vor den vielen roten Kugeln im Geäst der niedrigen Schattenmorelle und vor den Johannisbeersträuchern. Hin und wieder nickt er leicht mit dem Kopf: 18 + 18 + 18 + 18 …
    In dem einzigartigen
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