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Gauß: Eine Biographie (German Edition)

Gauß: Eine Biographie (German Edition)

Titel: Gauß: Eine Biographie (German Edition)
Autoren: Hubert Mania
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Der stille Junge ist ihm noch nie zuvor aufgefallen, weder in positiver noch in negativer Hinsicht. Aber nicht einmal Büttner selbst, der natürlich das Ergebnis kennt, könnte diese Aufgabe in nur zwei oder drei Minuten bewältigen.
    Im Lauf der Unterrichtsstunde wächst der Stapel mit den Tafeln allmählich. Und als Büttner zum Schluss die unterste nach oben kehrt, stehen auf Carls makellos sauberer Tafel nur die vier Ziffern 5050 ohne Schwammspuren und ohne Zwischenrechnungen. Das Ergebnis stimmt, und der Schulmeister ist wie vom Donner gerührt. Er fragt seinen Schüler in einer seltsamen Stimmung aus Faszination, Neugier und Skepsis, wie er das richtige Resultat in so unglaublich kurzer Zeit und vor allem ohne Hilfsmittel gefunden habe. Er könne es doch unmöglich im Kopf … Doch, natürlich im Kopf. Es sei ganz einfach, erklärt das kleine Genie. Er habe nur ein wenig über die Aufgabe nachgedacht, sich dann die Zahlenreihe von 1 bis 100 genau angesehen und bald ein paar bemerkenswerte Übereinstimmungen entdeckt. So sei die Summe der ersten und letzten Zahl 101. Die zweite und vorletzte, nämlich 2 und 99, ergäbe ebenfalls 101. Auch 3 + 98 sowie 4 + 97 summierten sich zu 101. Auf diese Weise gelange man – von außen nach innen vordringend – bis zum letzten Zahlenpaar 50 + 51 in der Mitte der Reihe. So erhielte man fünfzig Paare mit der jeweils gleichen Summe 101. Nun habe er nur noch 50 mit 101 multiplizieren müssen. Was 5050 ergäbe. Eine denkbar einfache Rechnung, die jeder im Kopf lösen könne. *
    Bleibt allerdings die Frage, wie Carl seinen Blickwinkel auf die Zahlenreihe so kreativ verändern konnte, dass ihm das Ergebnis anscheinend mühelos in den Schoß fiel. Leonhard Euler, der überragende Mathematiker des 18. Jahrhunderts, hat 1770, also sieben Jahre vor Carls Geburt, genaue Anweisungen dafür veröffentlicht. In einem Lehrbuch zeigt er auf acht Seiten anhand einiger Beispiele den Lösungsweg, wenn auch sein Fachbegriff für Zahlenreihe, nämlich «Arithmetische Progression», etwas einschüchternd klingen mag. An entscheidender Stelle schreibt Euler: «Um nun die Summa der … Progression zu finden … so schreibe man darunter eben diese Progression rückwärts …» [Eul: 264]. Nach dieser Anweisung haben wir also in der ersten Zeile eine abgekürzte Reihe von 1 bis 100 stehen, während in der zweiten Zeile darunter – sozusagen als Hilfslinie – dieselbe Anordnung rückwärts geschrieben ist:

    Statt, wie üblich, von links nach rechts zu zählen, sieht Carl sich nun nach diesem Schema die senkrechten Spalten an und stößt auf 100 Zahlenpaare mit der jeweiligen Summe von 101. Was 10 100 ergibt. Die zweite Reihe aber ist ja nur eine Hilfslinie. Sie hat nichts mit dem wirklichen Ergebnis zu tun und kann deshalb ignoriert werden. Bleibt also die Hälfte übrig. Und das sind 5050.
    Die aus allen Zwischenschritten folgende allgemeine Formel erläutert Euler nun folgendermaßen: «Man multiplicire die Summe des ersten und letzten Gliedes mit der Anzahl der Glieder, so wird die Hälfte dieses Produkts die Summa der ganzen Progression anzeigen» [Eul: 266]. Obwohl Euler die Rechenvorschrift nachweislich vor Gauß publizierte, wird sie noch heute nach dem Neunjährigen benannt, der sie 1786 in Büttners Katharinenschulstube durch selbständiges Denken gefunden haben soll: die «Gauß’sche Summenformel». *
    Der amerikanische Wissenschaftspublizist Brian Hayes bringt zur besseren Veranschaulichung den Begriff der «Faltung» ins Spiel. Hier stellt man sich die obere Reihe von 1 bis 100 auf einen Streifen Papier geschrieben vor. In seinem Aufsatz «Gauss’s Day of Reckoning» – Gauss rechnet ab – beschreibt er die tiefere Einsicht des Drittklässlers so: «‹Faltet› man die Zahlenreihe in der Mitte und addiert sie paarweise … ergibt sich jeweils die Summe von 101. Da es 50 dieser Paare gibt, beläuft sich die Gesamtsumme auf 50 x 101» [Hay]. Noch praxisnäher lässt sich die Faltung mit einem Schneidermaßband aus gewachstem Leinen demonstrieren, das zweifarbig bedruckt und beschriftet ist. Falten Sie es beim 50-Zentimeter-Strich, geben Sie dem sich wölbenden Band hinter dem Knick nach beiden Seiten ein paar Zentimeter Spielraum, bis Sie die eine weiße Hälfte des Bandes flach und exakt parallel neben die andere weiße Hälfte auf den Tisch legen können. Platzieren Sie den Anfang des Maßbandes millimetergenau neben die 100-Zentimeter-Markierung. Und schon haben Sie die 50
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