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Gauß: Eine Biographie (German Edition)

Gauß: Eine Biographie (German Edition)

Titel: Gauß: Eine Biographie (German Edition)
Autoren: Hubert Mania
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Humboldt, persönlich. Schließlich ist der Herzog von Braunschweig Alexanders Patenonkel. Er verleiht dem bedeutendsten pädagogischen Schriftsteller des 18. Jahrhunderts als erstem deutschen Pädagogen den Titel «Schulrat». Ihm allein traut er die revolutionäre Umgestaltung des Schulwesens in seinem Herzogtum zu. Noch im selben Jahr 1786 schreibt Campe: «Unsere Volksschulen sind – im Ganzen genommen und einige Ausnahmen abgerechnet – Schulen der Faulheit, der Stupidität und der Unbrauchbarkeit fürs Leben» [Cam 1 : 16].
    Martin Bartels ist selbst das beste Beispiel für die Vergeudung von Talenten im Braunschweiger Schulsystem. Seine Wendengraben-Herkunft erlaubt dem begabten Jungen keinen reibungslosen Aufstieg in die höheren Schulen, um eine wissenschaftliche Ausbildung genießen zu können. Er ist noch keine 14 Jahre alt, da muss er nach dem Abschluss der Realschule schon seinen eigenen Lebensunterhalt verdienen und «als Knabe die Stelle des Lehrers * und Aufsehers einer ziemlich rohen Jugend, zum Teil mit mir von gleichem Alter spielen». Die Rabauken kennt er besser, als ihm lieb sein kann. Sie stammen aus seiner eigenen Nachbarschaft, dem Wendentorviertel, denn Martin Bartels ist Jürgen Büttners Gehilfe in der Katharinenvolksschule. Ein ungleiches Tandem: der müde 65-jährige Schulmeister und ein dreizehnjähriger Jüngling, fast selbst noch ein Kind, das sich mühsam Respekt bei den Halbstarken aus der Nordstadt verschaffen muss. Sieben Stunden täglich schuftet er in der Schule als Büttners Mädchen für alles. Er kümmert sich um den ordnungsgemäßen Zustand der Schulstube, um Schreibfedern und Schiefertafeln. Vermutlich hackt er auch Holz für den Ofen und hilft den Schwerfälligen beim Schreiben, Lesen und Rechnen auf die Sprünge. Nach Schulschluss stürzt er sich auf Kopierarbeiten, stellt Vormundschaftsurkunden aus und fertigt Kirchenrechnungen für die Stadtverwaltung an, um sich als künftiger Rechnungsführer zu empfehlen, immer auf der Suche nach ein paar Extragroschen, die er für neue Bücher und das Traumziel Universität zurücklegen kann. So bleibt ihm täglich wenig Zeit für das Selbststudium der Mathematik übrig. Die eine oder andere zusätzliche Stunde zwackt er vom Schlaf ab, was zur Routine wird. Der alte Büttner hat Martins wache, mathematische Intelligenz sicher schnell erkannt und macht sie sich zunutze. Vermutlich überträgt er dem Jungen Lehraufgaben, für die er gar nicht eingestellt worden ist. Deshalb ist es auch nicht ganz unwahrscheinlich, dass Bartels 1786 selbständig die Rechenklasse betreut, in der der unscheinbare Nachbarjunge Carl Gauß seine heimlichen Zahlenexperimente betreibt, Lichtjahre entfernt vom offiziellen Lehrplan. *
    Bartels’ Besuch beim Nachbarn Gauß ist zweifellos mit Büttner abgesprochen. Denn auch der Schulmeister selbst hat erkannt, dass Carl ein Überflieger ist, dem er nichts mehr beibringen kann. Dass der jugendlich begeisterte Bartels in der Stube des Lehmmaurers und Hausschlachters vermutlich nicht den richtigen Ton treffen würde, ist eigentlich absehbar gewesen. Doch nun schaltet Büttner sich persönlich ein und bestellt Gebhard Gauß zu einem Gespräch in die Schule. Pfarrer, Doktor, Lehrer: Das sind traditionell die Respektspersonen, vor denen selbst Raubeine wie Carls Vater einknicken. Büttner wird dem verblüfften Handwerker erzählt haben, er habe in seiner nun fast fünfzigjährigen Laufbahn noch nie ein Kind mit solch enormen zahlenrechnerischen Fähigkeiten wie seinen Sprössling erlebt. Sodass er nun, auf eigene Kosten wohlgemerkt, das aus seiner Sicht beste augenblicklich verfügbare Mathematiklehrbuch deutscher Sprache für Carl habe kaufen wollen und – nachdem alles Suchen in Braunschweig nicht von Erfolg gekrönt gewesen sei – er weder weitere Kosten noch Mühen gescheut und es in Hamburg bestellt habe. Diese vermutlich singuläre Tat eines Lehrers in der dreihundertjährigen Geschichte der Braunschweiger Katharinenvolksschule wird ihre Wirkung auf Gebhard Gauß nicht verfehlt haben, und Büttner selbst wird mit Unsterblichkeit zweiten Grades belohnt. Eine Weile werden Büttner und Bartels noch mit dem Handwerker gefeilscht haben, um Carl von der täglichen Mithilfe beim Lehmstampfen, Strohschneiden, Stallausmisten, Säubern der Schweinedärme, Blutrühren, Flachsspinnen und bei den ungezählten Arbeiten im Garten zumindest teilweise freizustellen. Zum Schluss wird ihm der alte Schulmeister versichert
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