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Gauß: Eine Biographie (German Edition)

Gauß: Eine Biographie (German Edition)

Titel: Gauß: Eine Biographie (German Edition)
Autoren: Hubert Mania
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Paare mit der jeweils gleichen Summe 101 direkt vor Ihren Augen liegen.
    Man könnte also meinen, Euler habe 1770 als Erster diese Zahlenreihe ins Spiel gebracht. Aber die nachweisbare Ahnenreihe geht noch rund tausend Jahre tiefer in die Vergangenheit zurück, denn schon zur Zeit Kaiser Karls des Großen war das Problem als Rätsel formuliert worden. In der ältesten bekannten und um das Jahr 800 aufgeschriebenen Sammlung lateinischer Rechenaufgaben mit dem Titel Propositiones Ad Acuendos Iuvenes (Aufgaben zur Schärfung des Geistes der Jünglinge) strapaziert der englische Gelehrte Alkuin, Erzbischof von York und Berater am Hof des Großen Karl, das Vorstellungsvermögen seiner Zeitgenossen mit diesem Bild: «Eine Leiter hat 100 Sprossen. Auf der ersten sitzt eine Taube, auf der zweiten 2 Tauben, auf der dritten 3, auf der vierten 4, auf der fünften 5 usw. bis zur hundertsten Sprosse mit 100 Tauben. Wie viele Tauben sind es?» [Fol 1 ]. Im Lösungsabschnitt führt Alkuin in glasklarem, schnörkellosem Latein genau die Schritte vor, die zur leichten Addition einer arithmetischen Reihe führen. Der Mathematikhistoriker Peter Ullrich hat die Geschichte der Summenformel noch weiter bis ins 2. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung zurückverfolgt [Ull: 19], als ein «alter Grieche» namens Hypsikles schon dieselbe Entdeckung wie Alkuin, Euler und ein Braunschweiger Drittklässler gemacht haben soll.
    Der kleine Carl Friedrich Gauß hat also im streng historischen Sinn keine neue Entdeckung gemacht. Außergewöhnlich ist jedoch dieser sehr frühe Durchbruch zu echter mathematischer Kreativität. Angenommen, es habe 1786 in Braunschweig tatsächlich diese oder eine ähnliche Schulstunde gegeben, dann gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder war Carl seit kurzem bereits im Besitz der Summenformel. Oder aber er war der Lösung zur vereinfachten Berechnung einer Zahlenreihe zumindest auf der Spur und empfand Büttners Aufgabe an diesem Morgen als sportliche Herausforderung, sodass ihm nach einigen Minuten des Nachdenkens der Durchbruch gelang. In der Urversion der Anekdote lässt Wolfgang Sartorius von Waltershausen Carl schon nach wenigen Augenblicken mit seiner Tafel zum Lehrertisch marschieren. Das wäre in der Tat ein Indiz dafür, dass er die Formel schon vor dieser historischen Mathematikstunde abgeleitet haben musste und nun erstmals mit seiner Begabung in aller Öffentlichkeit glänzen konnte.
    Und das ist dann wohl auch der wahre Kern der Anekdote: Ein neunjähriges Kind findet durch selbständiges Denken die allgemeingültige Formel für die Summe aller Zahlenreihen. Von diesem Tag an ist Carl das mathematische Wunderkind, dem Lehrer und Professoren eine große Karriere prophezeien. Der amerikanische Mathematiker Eric Temple Bell urteilt: «In der ganzen Geschichte der Mathematik gibt es kein Beispiel von Frühreife, das Gauß auch nur nahekäme» [Bel: 221].

2. Der «Braunschweig»-Schlüssel
Auf dem Markte stehn und gaffen
Giebt den Dieben was zu schaffen.
Wer nicht Acht hat auf sein Thun
Den bekleckt das Galgen-Huhn.

    Einen derben Vers wie diesen erwartet man wohl am allerwenigsten in einem Lehrbuch für Mathematik. Doch im Gazophylacium Mercatorio Arithmeticum Das ist Schatzkammer der kaufmännischen Rechnung [WA] …, einem bombastischen Werk, dessen vollständiger Titel sich in schönster Barocktradition zu satten 99 Worten aufschwingt, demonstriert sein Verfasser Valentinus Heins auf fast 700 Seiten außer der Beflissenheit, dem Leser die Tricks kaufmännischen Rechnens beizubringen, auch noch sein Talent als Reimeschmied und Sinnspruchdrechsler. Die Endreime klingen selten elegant, zeugen aber von solidem Handwerk. Auch das Versmaß hält Rechenmeister Heins auf dem holprigen Parcours zwischen Bedeutungsschwangerschaft und Binsenweisheit souverän und mathematisch exakt ein. Als säße er vor einer Barockorgel, zieht er sämtliche Register, um seine Rechenkunst-Eleven mit flotten Anekdoten aus dem prallen Leben bei Laune zu halten. So verweist etwa sein Vers vom Galgenhuhn auf eine Rechenaufgabe im Abschnitt «Allerhand in der Haushaltung vorfallende Rechnungen», in deren Verlauf einer unachtsamen Hausfrau auf dem Markt die Geldbörse gestohlen wird.
    Ein Exemplar der sechsten Auflage dieses erstmals 1698 erschienenen Zeugnisses barocker Infotainmentkultur signiert der elfjährige Carl Gauß am 2. Januar 1789 als sein Eigentum. Und das – welch stolze Inbesitznahme! – gleich dreimal: schlicht «Gauß»
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