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Der Fall Lerouge

Der Fall Lerouge

Titel: Der Fall Lerouge
Autoren: Èmile Gabroriau
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E s war am 6. März 1862, dem Donnerstag nach Aschermittwoch, als auf dem Kommissariat in Bougival Frauen aus dem Dorf Jonchère mitteilten, die Witwe Lerouge, die in ihrem Dorf in einem abgelegenen kleinen Haus wohnte, sei seit zwei Tagen nicht mehr gesehen worden. Auf Klopfen habe niemand geantwortet, die Tür und die Fensterläden seien verschlossen. Natürlich seien sie darüber beunruhigt. Vielleicht sei ein Verbrechen oder ein Unfall im Spiel. Die Polizei täte gut daran, mit Gewalt in das Haus einzudringen.
    Der Kommissar nahm den Bericht zunächst nicht ernst, da sich in seinem Distrikt Verbrechen kaum ereigneten, rief aber dann doch einen Schlosser, den Polizeiwachtmeister und zwei Polizisten und ging mit ihnen nach Jonchère.
    Dieses Dörfchen, an dem eine Eisenbahnlinie vorüberführt, liegt an den Hängen eines Hügels an der Seine. Die Chaussee von Paris nach St-Germain führt etwa zwanzig Minuten an Jonchère vorbei.
    Das einfache, aber gemütlich aussehende Haus der Madame Lerouge, vielleicht hundert Meter abseits der Straße inmitten eines ziemlich verwilderten Gartens gelegen, bestand aus zwei Zimmern zu ebener Erde, die von einem Bogen gekrönt wurden. Die rings um das Anwesen führende niedrige Mauer war bröcklig und zudem nur durch ein windschiefes Holztor geschützt. Ein ungebetener Gast hätte sich jederzeit Zutritt verschaffen können.
    Der Kommissar, dem eine Schar von Neugierigen folgte, sah sich um und sagte schließlich: »Keiner betritt den Garten!« Und er stellte die beiden Polizisten als Wache an das Tor, während er mit dem Wachtmeister und dem Schlosser zur Haustür ging. Er rief ein paarmal, schlug mit seinem Knüttel an die Tür und an die Läden, und als er keine Antwort vernahm, befahl er dem Schlosser, sich ans Werk zu machen. Doch noch während der in seinen Werkzeugen kramte, kam ein kleiner Junge, der einen Schlüssel wichtigtuerisch hochhielt. Er hätte ihn im Straßengraben gefunden, sagte er.
    Der Schlüssel paßte, und man betrat das Haus, indes die Neugierigen die beiden Posten bedrängten.
    Ein Schreibtisch und zwei große Koffer in dem ersten Zimmer, das der Kommissar betrat, waren erbrochen; im zweiten Zimmer herrschte eine heillose Unordnung, wie von böswilliger Hand angerichtet. Und hier lag auch, am Kamin, die Madame Lerouge, das Gesicht in der Asche. Eine Gesichtshälfte und ein Teil der Haare waren verbrannt. Die Kleider jedoch hatten nicht Feuer gefangen.
    Â»Ich sehe keine Wunde«, sagte der Kommissar.
    Â»Doch, hier«, sagte der Wachtmeister, »zwei.« Und er deutete zwischen die Schulterblätter der toten Frau. »Kalt«, fügte er hinzu, nachdem er sich gebückt und die Leiche berührt hatte. »Mindestens seit anderthalb Tagen tot.«
    Der Kommissar waltete nun seines Amtes, das heißt, er verfaßte einen Bericht. »Benachrichtigen Sie den Richter, und sorgen Sie dafür, daß dieser Bericht so schnell wie möglich an das Kriminalgericht in Paris gelangt«, sagte er zu dem Wachtmeister. »Bis der Untersuchungsrichter hier ist, werde ich eine vorläufige Recherche anstellen. Hier muß alles so bleiben, wie es ist.« Und er ging in den anderen Raum und begann seine Arbeit, nachdem der eine Polizist auf den Weg geschickt worden war.
    Er machte sich daran, zu ergründen, wer Madame Lerouge war, welchen Ruf sie genoß, ob sie Feinde hatte, mit wem sie verkehrte, ob sie reich war und so weiter. Aber die Aussagen der Nachbarn ergaben nichts Wesentliches über sie, die vor einigen Jahren zugezogen und immer so etwas wie eine Fremde geblieben war. Nach dreistündiger Befragung stand nur soviel als sicher fest: Anfang 1850 war Madame Lerouge in einem Gasthof abgestiegen und hatte nach einem Haus gesucht, bis sie dieses leerstehende fand und es sofort und ohne den Versuch, um den Zins zu handeln, mietete. Sie bezahlte im voraus, wollte aber seltsamerweise keinen Mietvertrag abschließen.
    Sie mochte damals Mitte der Fünfzig gewesen sein, sah noch leidlich gut aus und war bei bester Gesundheit. Woher sie stammte, warum sie sich hier niedergelassen hatte, das erfuhr niemand, und auch der Umstand, daß sie hin und wieder eine normannische Haube trug, ließ keinen sicheren Schluß auf ihre Herkunft zu. Denn genausogut schmückte sie sich mit bunten Schleifen, Ansteckblumen und Straßzeug nach Zigeunerart. Fest schien nur
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