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In seiner Hand

Titel: In seiner Hand
Autoren: Nicci French
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Abigail. Abbie. Ich bin fünfundzwanzig Jahre alt, und ich lebe mit meinem Freund Terry, Terence Wilmott, in einer winzigen Wohnung in der Westcott Road. Das ist es: Terry. Terry wird sich Sorgen machen.
    Er wird die Polizei anrufen, mich als vermisst melden. Sie werden mit Blaulicht und heulenden Sirenen herfahren und die Tür einschlagen. Licht und Luft werden hereinfluten. Nein, nur Fakten. Ich arbeite für Jay & Joiner, entwerfe Büroeinrichtungen. Ich habe einen Schreibtisch mit einem weißblauen Laptop, einem kleinen grauen Telefon, einem Stapel Papier, einem ovalen Aschenbecher voller Büroklammern und Gummibänder.
    Wann war ich das letzte Mal dort? Das alles erschien mir unglaublich weit weg, wie ein Traum, der einem entgleitet, sobald man versucht, ihn zu fassen zu bekommen. Wie das Leben eines anderen Menschen. Ich konnte mich nicht erinnern. Wie lange lag ich schon hier?
    Eine Stunde, einen Tag, eine Woche? Es war Januar, das wusste ich inzwischen – zumindest glaubte ich es zu wissen. Draußen war es kalt, und die Tage waren kurz.
    Vielleicht hatte es geschneit. Nein, ich durfte nicht an Dinge wie Schnee denken, Sonnenlicht auf weißen Flächen. Ich musste mich auf das konzentrieren, was ich wusste: Januar, aber ob Tag oder Nacht konnte ich nicht sagen. Vielleicht war inzwischen schon Februar. Ich versuchte an den letzten Tag zu denken, an den ich mich klar erinnern konnte, doch das war, als würde ich in einen dichten Nebel blicken, in dem sich lediglich undeutliche Schatten abzeichneten.
    Ich beschloss, mit dem Silvesterabend zu beginnen. Ich hatte mit Freunden getanzt, und um Mitternacht waren sich alle um den Hals gefallen. Ich hatte alle möglichen Leute auf den Mund geküsst, Leute, die ich gut kannte, und Leute, die ich erst ein paarmal getroffen hatte, sogar Fremde, die mit ausgebreiteten Armen und einem erwartungsvollen Lächeln auf mich zukamen, weil man sich an Silvester nun mal küsst. Aber an all das wollte ich jetzt nicht denken. Nach Neujahr, ja, da regte sich noch etwas in meinem Gedächtnis. Tage im Büro, klingelnde Telefone, Spesenrechnungen in meinem Eingangsfach.
    Tassen mit kalt gewordenem, bitterem Kaffee. Aber vielleicht war das vorher gewesen, nicht danach. Oder vorher und nachher, tagein, tagaus. Alles erschien mir verschwommen und bedeutungslos.
    Ich versuchte mich zu bewegen. Meine Zehen waren vor Kälte ganz steif, mein Nacken schmerzte, und in meinem Kopf pochte es. Ich hatte einen widerlichen Geschmack im Mund. Warum war ich hier, und was würde mit mir geschehen? Wie ein Opferlamm lag ich auf dem Rücken, Arme und Beine festgebunden. Eine Welle der Angst durchlief meinen Körper. Er konnte mich verhungern lassen. Mich vergewaltigen. Foltern. Er konnte mich töten.
    Vielleicht hatte er mich schon vergewaltigt. Ich presste mich gegen den Boden und wimmerte ganz leise, tief unten in meinem Hals. Zwei Tränen stahlen sich aus meinen Augen. Ich spürte das Kitzeln und Brennen auf meiner Haut, als sie zu meinen Ohren hinunterliefen.
    Nicht weinen, Abbie. Du darfst nicht weinen.

    Denk an den Schmetterling, der nichts als Schönheit bedeutet. Ich stellte mir den gelben Schmetterling auf seinem grünen Blatt vor. Ich ließ meinen ganzen Kopf voll werden von diesem kleinen Wesen, das so zart und leicht auf dem Blatt saß, dass es jeden Moment weggepustet werden konnte wie eine Feder. Ich hörte Schritte. Sie klangen weich, als wäre der Mann barfuß. Sie kamen näher, brachen ab. Dann hörte ich jemanden heftig atmen, fast keuchen, als hätte er ein Stück klettern müssen, um zu mir zu gelangen. Starr vor Angst lag ich in der Stille. Er stand jetzt über mir. Ich hörte ein Klicken, und trotz meiner Kapuze war mir klar, dass er eine Taschenlampe eingeschaltet hatte. Ich konnte noch immer nichts erkennen, aber ich sah durch den Stoff, dass es nicht mehr völlig dunkel war. Offenbar stand er über mir und leuchtete mit einer Taschenlampe auf meinen Körper hinunter.
    »Du hast dich nass gemacht«, murmelte er. Zumindest kam es mir durch meine Kapuze wie ein Murmeln vor.
    »Dummes Mädchen.«
    Ich spürte, wie er sich zu mir herunterbeugte. Ich hörte ihn atmen. Mein eigenes Atemgeräusch wurde lauter und schneller. Er schob die Kapuze ein wenig hoch und befreite mich erstaunlich sanft von dem Knebel. Ich spürte eine Fingerspitze auf meiner Unterlippe. Ein paar Sekunden lang konnte ich bloß erleichtert keuchen, die Luft in meine Lungen saugen. Dann hörte ich mich
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