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Wild (German Edition)

Wild (German Edition)

Titel: Wild (German Edition)
Autoren: Lena Klassen
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I. TEIL: NEUSTADT
1.
    Niemand konnte so malerisch sterben wie Moon.
    Sie lag auf dem Rücken, hatte ihr langes kastanienbraunes Haar über die Schultern gelegt und atmete so flach, dass sie ziemlich tot wirkte. Ein runder, weißlicher Lichtstrahl tauchte ihr blasses Gesicht in Mondlicht und verwandelte sie in eine Statue aus edlem Marmor. Um ihre Mundwinkel zuckte es ein bisschen.
    »Oh Julia!«, schluchzte Jupiter. »Julia, wie konnte das nur passieren. Du bist tot! Wer, ach, wer hätte das gedacht, dass uns dieses Schicksal trifft, oh, wer!«
    »Nun übertreib mal nicht«, murmelte Gandhi neben mir. In der Dunkelheit fühlte ich, wie er den Kopf schüttelte.
    Jupiter zog das Messer aus seiner Tasche – das heißt, er versuchte es, aber die Theaterwaffe klemmte in seinem Gürtel, und wir hörten Stoff reißen, bevor er sie schließlich ins Licht hielt.
    »Oh! Jetzt naht auch mein Ende!«, rief er laut. »Oh, ich will sterben, nun, da ich nicht ohne dich leben kann! Oh Julia, ich komme mit, wo du auch hingehst!«
    Jupiter, klein und breit, mit seinem rundlichen Käsegesicht, hatte eine erstaunlich kräftige und ausdrucksstarke Stimme. Wenn er aus Versehen aus dem Lichtstrahl trat und von der Dunkelheit verschluckt wurde, konnte man fast vergessen, dass er optisch nicht so gut zu der himmlischen Julia passte.
    Neidlos musste ich zugeben, dass er den Titel des besten Schauspielers unserer Klasse verdiente. Kein Wunder, dass Gandhi ihn für diese Rolle ausgesucht hatte, obwohl Lucky, Merkur und Schalom viel lauter »ich, ich!« geschrien hatten. Keiner wollte sich die Gelegenheit entgehen lassen, Moon zu küssen.
    Jupiter bohrte sich das Messer in die Brust und brach neben seiner Julia zusammen. Ein letztes Mal rappelte er sich keuchend auf und drückte ihr unter reichlich Tränen ein Küsschen auf die Wange.
    Die anderen Jungs stöhnten. Jetzt hatte er schon die Chance und vergab sie – mehr traute er sich nicht? Aber gleich darauf wurde es totenstill, denn Julia erwachte.
    Moon ließ sich Zeit dabei. Sie schlug die Augen auf, ein Leuchten zog über ihr Gesicht. Langsam, noch völlig benommen, setzte sie sich auf, strich sich die Haare aus der Stirn, verharrte eine ganze Weile, vom Licht beschienen, seufzte und entdeckte dann den dahingeschiedenen Jupiter.
    »Romeo?« Ihre Stimme, leise, schon vom Entsetzen gezeichnet, ließ mir einen Schauer über den Rücken laufen. Neben mir kicherte Charity. Ich versetzte ihr einen unauffälligen Rippenstoß, damit sie ruhig war, denn ich wollte keine Sekunde verpassen. Ich war zwar dabei gewesen, als Moon in ihrem Zimmer geübt hatte, aber hier in der verdunkelten Aula war es etwas ganz anderes.
    Außerdem musste ich gestern Nachmittag Romeo sein, und sie hatte mir nicht erlaubt, die Augen zu öffnen, während ich tot spielte.
    »Romeo?«, fragte Moon etwas lauter, beugte sich über Jupiter und fasste ihn an den Schultern. Sanft schüttelte sie ihn. »Romeo?« Sie wandte sich ab und weinte in ihre Hände. Als sie ihr Gesicht wieder in den Lichtstrahl hielt, glänzte eine einsame Träne auf ihrer Wange.
    Dann erblickte sie das Messer und stieß einen Laut aus wie ein verwundetes Tier. Ich hatte zwar noch nie ein Tier gehört, aber so stellte ich mir das vor. Ein Geräusch aus dem Brustkorb heraus oder von noch tiefer, aus den Eingeweiden. Dieser Moment, indem die Kreatur begreift, dass sie sterben muss.
    Moon war wieder einmal perfekt. Sie machte fast gar nichts. Sie kniete neben Jupiter und strich ihm über die stoppeligen blonden Haare.
    Unpassenderweise erschien ein seliges Grinsen auf seinem Totenantlitz.
    Ich warf einen schnellen Blick zu Lucky hinüber, aber in der Dunkelheit konnte ich ihn nicht richtig sehen; ich wusste nur, wo er gesessen hatte, bevor Gandhi das Licht ausgemacht hatte.
    »Alles verloren«, klagte Julia äußerst gefasst. Sie jammerte nicht. Ich hatte schon ein paar Aufführungen gesehen, wo die Julia sich schreiend und schluchzend über ihren toten Geliebten warf, aber das hätte nicht zu Moon gepasst. Sie betrachtete ihn nahezu kühl und nahm dann das Messer in die Hand. Sehr überlegt, sehr … abgeklärt.
    »Dann will auch ich nicht mehr leben«, beschloss sie. Wieder hörte ich Charity kichern. »Na, dann auf Wiedersehen«, flüsterte sie, als Moon auf der Bühne sich das Theatermesser in die Brust stieß und über Jupiter zusammenbrach.
    Eine Weile war es mucksmäuschenstill, als könnte jetzt noch etwas geschehen – aber was sollte denn passieren,
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