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Wild (German Edition)

Wild (German Edition)

Titel: Wild (German Edition)
Autoren: Lena Klassen
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hatte. Der Kontrast zwischen uns hätte nicht größer sein können. Sie war so wunderschön, wie man es selbst nach einer Behandlung der unvergleichlichen Dr. Grace Peters nur dann erwarten kann, wenn man ideale Voraussetzungen mitbringt. Obwohl meine Freundin es abstritt, wusste ich genau, dass die berühmte Schönheitschirurgin nur den winzigen Nasenhöcker beseitigt hatte, über den Moon untröstlich gewesen war. Ihr makelloses, absolut symmetrisches Gesicht, perfekt oval, die kleine, gerade Nase, die ausdrucksstarken dunkelblauen Augen, die sanft geschwungenen Lippen, dazu diese Fülle an geschmeidigem, seidig glänzendem Haar … ach! Da Dr. Peters sich nur um Gesichter kümmerte, war Moon natürlich auch noch bei Professor Love Frohsinn gewesen, die ihre Körpermaße auf Idealgröße zurechtgeschnippelt hatte – auch hier waren nur minimale Korrekturen nötig gewesen, wenn überhaupt.
    Dagegen sah meine Wenigkeit, heute passend erbsengrün verfärbt, beschämend unscheinbar aus. Mein herzförmiges Gesicht war nicht einmal richtig symmetrisch. Da konnte Moon noch so oft behaupten, es würde gar nicht auffallen, ich sah es jedenfalls. Meine unterschiedlich großen Augen waren weder strahlend himmelblau noch mysteriös dunkelbraun, sondern von einem hellen Honigbraun und meine Brauen, wenn auch dunkler, ein bisschen zu kräftig. Meine Haare waren ebenfalls braun, allerdings nicht von dem edlen Mahagonibraun meiner Freundin, sondern hell und irgendwie pudrig. Unschlüssig zwirbelte ich eine Strähne zwischen den Fingern.
    »Wie Erdnussbutter«, lachte Moon. »Ich könnte sie dir bei der Gelegenheit gleich färben. Sonst nenne ich dich demnächst nicht mehr Pi, sondern Peanuts.«
    Mein Haar war sehr fein und weich und ließ sich schlecht frisieren, deshalb trug ich es recht kurz und zwirbelte die einzelnen Strähnen mit Gel hoch, sodass sie in alle Richtungen abstanden. Meistens gefiel es mir, aber heute lenkte das dicke Pflaster von meinen bescheidenen Vorzügen ab.
    »Ach, Moon«, seufzte ich. »Dagegen würde auch keine andere Frisur helfen, glaub mir.«
    »Du siehst das viel zu schwarz.« Moons gute Laune ließ sich nicht so schnell erschüttern. »Wir kämmen die Ponyhaare runter, dann merkt man kaum noch was. Und wenn wir deine Augen betonen, achtet keiner mehr auf das Pflaster. Lippenstift?«
    Während ich mich kaum schminkte, besaß Moon die größte Sammlung an Make-up-Utensilien, die man sich vorstellen konnte. In dem mondänen Wohnblock, wo sie mit ihrer Familie lebte, hatte sie eine ganze Etage nur für sich, und darin nahm ihr Ankleidestudio mindestens ein Drittel des Raumes ein. Ihr Bruder durfte nicht einmal den Fuß dort hineinsetzen.
    »Muss nicht sein«, sagte ich, aber gegen ihre fröhliche Tatkraft konnte ich mich nicht zur Wehr setzen.
    »Warum bin ausgerechnet ich mit der griesgrämigsten Trantüte auf dieser Schule befreundet?«, fragte Moon, während sie beschwingt in ihrer Lippenstift-Kollektion wühlte.
    »Keine Ahnung. Du hast ein gutes Herz?«
    »Das muss es sein. Voilà. Mit Karibiktraum-Geschmack.«
    Der Duft nach Kokos und Mango stieg mir in die Nase, als sie mir den Karibiktraum auf die Lippen schmierte. »Das müsstest selbst du mögen.«
    »Na ja.«
    »Amen. Aus deinem Mund ist das schon fast ein Lob.« Moon widmete sich ausgiebig meiner Verschönerung.
    »Wenigstens muss ich heute nicht den toten Romeo spielen«, sagte ich matt.
    »Nein, heute bist du meine Schminkpuppe.« Sorgfältig betupfte sie meine Augenbrauen mit Glitzerstaub. »Hast du mal mit Doktor Händel gesprochen? Ob er dir was für eine bessere Stimmung geben kann?«
    Sie puderte meine Nase großzügig ein, sodass ich niesen musste. Sofort schmerzte mir der Kopf.
    »Wirklich, Pi. Früher hast du sogar mal gelacht, weißt du noch? Wenn du nicht aufpasst, landest du noch bei den Wilden.« Sie biss sich erschrocken auf die Lippen. »Das – oh, vergiss es. Bitte.«
    Ich war nicht so schockiert, wie sie glaubte, denn daran hatte ich auch schon manchmal gedacht. Natürlich sprach ich nicht darüber, aber hin und wieder überkam mich die Sorge, jemandem könnte auffallen, dass ich ein Problem mit meiner Stimmung hatte. Ich war nicht todkrank. Ich hatte auch keinen Defekt – zumindest hoffte ich das. Aber trotzdem fürchtete ich manchmal, wenn die Traurigkeit mich ganz besonders schlimm überfiel, dass Doktor Händel das als eine ansteckende Krankheit diagnostizieren könnte und die Gesundheitsbehörde alarmierte. Ganz
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