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Stachel der Erinnerung

Stachel der Erinnerung

Titel: Stachel der Erinnerung
Autoren: F Henz
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Prolog
     
    „Wir haben also einen Pakt?“
    Die Frau nickte, ohne sich umzudrehen. Sie stand vor einem langen Tisch mit einer Platte aus poliertem Onyx, in der sich die Flammen der Kerzen im Raum spiegelten. Das schwarze Haar fiel ihr bis zur Hüfte und verdeckte den größten Teil ihres Gesichts, als sie sich vorbeugte, um nach einem auf dem Tisch liegenden Messer zu greifen.
    „Ich erfülle dir deinen Wunsch und dafür lässt du deinen Gefangenen frei“, vergewisserte er sich ein weiteres Mal.
    Sie nickte wieder und begann mit dem Messer die Versiegelung einer kleinen Flasche aufzubrechen. Die offensichtliche Missachtung, mit der sie ihn behandelte, brachte ihn zur Weißglut. Aber er durfte sich seinen Ärger nicht anmerken lassen. Genauso wenig wie die Wichtigkeit, die dieser Pakt für ihn besaß.
    „Wie viele sollen es sein?“, bohrte er weiter. „Du machst immer nur Andeutungen, Schwesterchen. Ich will eine genaue Zahl.“
    „Eine genaue Zahl willst du?“, wiederholte sie spöttisch, ohne ihre Tätigkeit zu unterbrechen. „Die sollst du haben. So viele, wie du kriegen kannst. Genau genug?“
    Er setzte zu einer scharfen Antwort an, aber sie unterbrach ihn mit einer Handbewegung. „Ich sage dir, wenn es genug ist. Und wenn du nicht einverstanden bist, dann geh. Ich habe dich nicht gerufen. Du kratzt immer wieder an meiner Tür. Du willst, dass ich Balder freilasse. Weil du dir etwas davon versprichst.“ Sie machte eine Pause. „Unterschätz mich nicht, Bruder. Ich kenne dich. Und ich kenne das Pack dort oben wesentlich länger und wesentlich besser als du.“
    Er nahm ihr das Messer aus der Hand, griff nach ihrem Kinn und zwang sie, ihn anzusehen. Zwar war er an den Anblick gewöhnt, aber dennoch kostete es ihn Kraft, sich nicht voller Ekel abzuwenden – durch verwesende Fleischtücke schimmerte gelblich der Wangenknochen. „Du kannst mich nicht einschüchtern, Hel. Ich habe gründlich nachgedacht, ehe ich herkam. Allerdings hätte ich erwartet, dass du etwas anderes für Balders Freilassung verlangen würdest. Etwas, das du wirklich brauchst“, setzte er mit samtweicher Stimme hinzu.
    Sie riss sich los und nahm wieder das Messer. „Kümmere dich um deinen Teil des Pakts, alles andere ist meine Sache.“
    Er schwieg. Diese Antwort reichte ihm nicht annähernd. In der Stille hämmerte der schwarze Regen an die Fenster des Palastes, doch die kalten Flammen der ewigen Lichter flackerten nicht. Sie brachten die Schuppen, die die Wände überzogen, zum Leben und setzten sie zu immer neuen Mosaiken zusammen. Der Gedanke, unendliche Zeitspannen hier verbringen zu müssen, ließ das ganze Ausmaß der Verbannung seiner Schwester deutlich werden.
     „Zweifelst du an meinen Worten?“ Ihre Stimme traf ihn wie ein Peitschenschlag. „Nun, ich kann mir jederzeit einen anderen suchen, der mir meinen Wunsch erfüllt. Kannst du das auch?“ Die letzten Worte hallten von den Wänden wider und verdoppelten den Hohn darin.
    Er zog die Schultern hoch und wandte sich zum Gehen. Sie hatte gewonnen. Dann hielt er noch einmal inne. „Schwörst du bei Odin, dass du dein Wort hältst?“
    Helles Lachen antwortete ihm und dröhnte noch in seinem Kopf, als er sein Pferd gegen Süden jagte.

eins
     
    Tessa stockte der Atem. Kein Hollywoodregisseur hätte es gewagt, eine derart kitschige Szene auf die Leinwand zu bringen, wie Mutter Natur es hier tat. Die untergehende Sonne beleuchtete den steil aufragenden, in einem Tierkopf endenden Längssteven eines Wikingerschiffs vor dem Hintergrund schneebedeckter Gletscher. Um die Idylle perfekt zu machen, spiegelten sich rosarot schimmernde Schäfchenwolken in der glatten Oberfläche eines tiefer gelegenen Sees.
    „Hab ich zu viel versprochen?“ Der Stolz in Berits Stimme war unüberhörbar. Sie stellte sich neben Tessa und blickte auf den Teil des Schiffes, den der Gletscher freigegeben hatte.
    „Ganz und gar nicht. Trotzdem ist es erstaunlich, ein Bestattungsschiff so weit nördlich zu finden.“ Tessa ließ ihren Blick über das Panorama wandern.
    „Vielleicht ist es ja kein Bestattungsschiff.“
    „Wir sind gut vierzig Kilometer von der Küste entfernt, was sollte es denn sonst sein?“
    Berit zuckte die Schultern. „Vielleicht war das Schiff erst in Bau …“
    „Unmöglich, sie hätten es über den Landweg an die Küste bringen müssen. Viel zu viel Aufwand. Oder gibt es einen Fluss?“ Tessa blickte sich um.
    „Nein. Deshalb habe ich dich auch kommen lassen. Wir
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