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Wild (German Edition)

Wild (German Edition)

Titel: Wild (German Edition)
Autoren: Lena Klassen
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nicht? Wir alle wünschen uns liebe, gesunde Kinder, die dem neuen Menschen ein kleines Stückchen näher sind. Du nicht auch?«
    »Ja, klar.« Ich nickte. Manchmal lag die Traurigkeit wie eine graue Wolke über mir. Ich wusste, das war nicht normal. Moon zum Beispiel war in ihrem ganzen Leben kein einziges Mal traurig gewesen. Jedenfalls nicht so wie ich. Schon länger hatte ich den Verdacht, dass ich deshalb keinen Partner zugeteilt bekam. Weil sie irgendwie wussten, dass mit mir etwas nicht stimmte. Der neue Mensch würde nicht traurig sein, sondern glücklich. Wir schwammen alle im Glücksstrom, getragen von den Wellen, die wir uns regelmäßig beim Arzt abholten. Bereits jetzt war jeder Mensch in Neustadt heiter und zufrieden. Welches Ziel hatte es denn, die Evolution voranzutreiben, wenn dabei jämmerliche, deprimierte Gestalten herauskamen?
    »Mach dir keine Sorgen, Peas«, wiederholte Doktor Händel freundlich. »Es muss ja niemand von der Schule sein. Falls du dir Gedanken machst, weil die meisten Jungen deines Alters quasi schon weg sind. In Neustadt gibt es genug junge Leute. Das wird schon.«
    Er schüttelte mir die Hand.
    Im Flur waren alle Wartestühle besetzt. Weil ich den Betrieb so lange aufgehalten hatte, musste das letzte Mädchen in der Reihe sogar stehen und verdeckte mit ihrem Kopf das »Glück« in der Aufschrift Lass den Glücksstrom nie abreißen . Lucky war nach mir dran.
    »He, hast du dir gleich zwei Wellen verpassen lassen, oder was?« Er grinste mich an, und eine warme Woge schwappte durch meinen Körper.
    »Keine Sorge. Ich hab dir noch was übriggelassen«, sagte ich.
    »Oh, wenn ich dich sehe, reicht mir eine halbe Dosis, um glücklich zu sein. Wartest du? Ich geh gleich mit Moon in die Mensa.«
    Er bekam gar nicht mit, wie ich nickte, während er im Sprechzimmer verschwand. An die Tür gelehnt stand ich da und atmete tief durch. Gleich würde die Wirkung einsetzen. Das Glück. Wo blieb es bloß? Ich hatte schon manchmal darüber nachgedacht, ob ich nicht darum bitten sollte, die wöchentlichen Abstände der Glücksgaben bei mir zu verkürzen. Aber wenn ich mich darüber beschwerte, dass ich mich komisch fühlte, würde ich vielleicht nie einen Freund bekommen. Besser, man fiel der Gesundheitsbehörde nicht auf.
    »Was gibt’s denn heute in der Mensa?«, fragte Orion, der Junge, der als Nächstes an der Reihe war. Er war im Jahrgang über uns und brachte in diesem Sommer seine letzten Wochen an der Schule hinter sich. Da er ein Riese von nahezu zwei Metern war, konnte man ihn nicht übersehen. Auch in meiner Klasse war Orion häufig Gesprächsthema, denn wie das Sportteam, dessen Kapitän er war, ohne ihn auskommen sollte, war manch einem ein Rätsel. In unserem Jahrgang gab es zwar auch einen sportlichen Überflieger – Zeus –, doch leider auch ein paar Nieten zu viel, Jupiter zum Beispiel, und das musste man erst einmal ausgleichen.
    »Tofu-Bratlinge«, antwortete ich liebenswürdig. Zu ein Meter fünfundneunzig geballter Kraft ist man am besten stets höflich und zuvorkommend. »Dazu Vitaminsoße mit Gemüsegeschmack.«
    »Ach, wie nett.« Orions grinste zufrieden. Tofu-Bratlinge gab es nahezu jeden Tag, nur die Geschmacksrichtung der Soße variierte der Gesundheits-Dienstleiter nach Gutdünken. Deshalb war die Sorte jedes Mal eine Überraschung.
    »Ich hab schon gegessen und es war wunderbar lecker«, piepste ein dünnes Stimmchen.
    Orion sah auf das Mädchen herunter, das neben ihm saß und kaum bis zu seinem Ellbogen reichte.
    »Ach«, sagte er noch einmal.
    »Der Honig-Zimt-Nachtisch ist traumhaft«, fing sie an und klimperte mit ihren Augenlidern. Diese Kleine konnte es doch nicht im Ernst auf Orion abgesehen haben? Von Lucky wäre sie bestimmt spätestens jetzt abgeküsst worden, doch Orion drehte sein Gesicht wieder zur Tür des Sprechzimmers, durch die gerade der Freund meiner besten Freundin trat.
    »Fertig. Komm, Pi, gehen wir.« Lucky trabte los, und ich heftete mich an seine Fersen.
    Nach fünf Minuten konnten wir beide die Wirkung der Welle bereits spüren. Wie ein weißgrauer Schleier waberte sie durch mein Blut und verlieh meinen Füßen ein schwebendes Gleiten. Lucky lachte laut auf und schlug mitten auf dem Flur einen Salto, einfach so, wirbelte eine Schülerin herum, die uns gerade entgegenkam, und sprang mit einem lauten »He ja!« durch die Flügeltüren der Mensa.
    Ich war zu benommen, um den zurückschwingenden Türen auszuweichen, und wurde rückwärts zu
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